Andreas Kunz: Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Macht in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944 bis 1945 (= Beiträge zur Militärgeschichte; Bd. 64), München: Oldenbourg 2005, VIII + 390 S., ISBN 978-3-486-57673-3, EUR 34,80
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Im Sommer 1944 brachen die fast zeitgleichen alliierten Großoffensiven an der Invasionsfront im Westen und im Mittelabschnitt der Ostfront den deutschen Streitkräften endgültig das Rückgrat. Trotz der strategischen Aussichtslosigkeit und der operativen Lähmung der Wehrmacht dauerte es aber noch bis zum Mai 1945, bis sich das "Dritte Reich" in die Niederlage fügte. Der Todeskampf des Nationalsozialismus wurde teuer bezahlt, denn in der Zeitspanne zwischen Sommer 1944 und der Kapitulation überstiegen die Verluste der Wehrmacht die Ausfälle des gesamten bis dahin geführten Krieges. Dieser dramatische Schlussakt des Zweiten Weltkriegs ist das Thema der vorliegenden Studie, die im Jahre 2003 als Dissertation an der Hamburger Bundeswehruniversität angenommen wurde.
Die Untersuchung ist als umfassende Analyse des Zustands und der Situation des deutschen Militärs in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs angelegt. Der Autor hat es sich zum Ziel gesetzt, sowohl die strukturellen Rahmenbedingungen des "Endkampfes" zu rekonstruieren als auch die widersprüchlichen Wahrnehmungen und Verhaltensformen der Kriegsteilnehmer zu untersuchen und zu typologisieren.
Im ersten Teil der Studie befasst sich Kunz mit dem militärischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem das Militär während der Endphase agierte. Vor dem Hintergrund der dramatischen militärischen Entwicklungen an den Hauptfronten im Westen und Osten schildert Kunz zunächst, wie die immer bedrohlichere Lage von der deutschen Führung wahrgenommen wurde. Man schätzte die Situation zwar durchaus realistisch ein, verweigerte sich aber beharrlich der Einsicht in die heraufziehende Niederlage und verfiel in irrationale Wunschvorstellungen (57). Trotz des Fehlens jeglicher strategischer Konzepte erwog weder die Regimeführung noch die Militärelite, Friedensbemühungen anzustrengen. Stattdessen forcierte das Regime seine Maßnahmen zur Totalisierung der Kriegsanstrengungen, insbesondere in der Folge des 20. Juli 1944. Die strukturellen Veränderungen betrafen auch das Verhältnis zwischen NS-Führung und Militär, das sich einer zunehmenden Kontrolle durch Partei und SS ausgesetzt sah. Bei der Mobilisierung der Gesellschaft kannte das Regime schließlich keine Grenzen mehr. Einschneidende Maßnahmen wie die massenhafte Einziehung von Frauen zum Arbeitseinsatz und "Wehrhilfsdienst", die Aufstellung des militärisch bedeutungslosen "Volkssturms", die vergeblichen Versuche zur Entfesselung eines "Volkskrieges" und die Ausdehnung der Wehrpflicht auf den Jahrgang 1929 im März 1945 zeigten, dass die NS-Führung alle Skrupel verloren hatte.
Im zweiten Teil der Arbeit wird der Blick auf das Innenleben der Wehrmacht gerichtet. Die Darstellung der personellen Ausstattung der Wehrmacht nimmt zu Recht großen Raum ein. Denn die Tatsache, dass der Rekrutierungsspielraum des Reichs 1944 weitgehend erschöpft war und der Wehrmacht "schlechterdings die Soldaten ausgingen" (164), hatte weit reichende Folgen für die deutsche Kriegführung. Die immensen Verluste des Feldheeres, die sich während des dritten Quartals 1944 im Tagesdurchschnitt auf 5750 Mann beliefen, konnten nur etwa zur Hälfte ersetzt werden. Weder die Abgaben aus der Kriegswirtschaft noch die Umschichtungen innerhalb der Wehrmacht reichten aus, um den dramatischen Schwund des Feldheeres aufzuhalten. Die "Widerlegung der Legende von der ungebrochenen Kampfkraft der Wehrmacht" (III.2.) kostet den Autor keine Mühe. Wie wenig die Wehrmacht ihren Gegnern tatsächlich noch entgegenzusetzen hatte, offenbart schon der galoppierende Rückgang der Ausstattung der Truppen mit Waffen, Munition und elementaren Versorgungsgütern. Der fortschreitende Mangel an einsatzfähigen Gefechtsfahrzeugen und Betriebsstoff gipfelte bald in der faktischen "Entmotorisierung" des Heeres (199), die dazu führte, dass "eine aktive Kriegführung nicht mehr möglich" war, wie das OKH im Februar 1945 eingestehen musste (198). Die steigenden Verluste und die Ausbildungsdefizite des Ersatzes trugen ebenfalls dazu bei, dass die Leistungsfähigkeit der Truppen immer weiter abfiel. Hinsichtlich ihres inneren Gefüges und Zusammenhalts boten die deutschen Streitkräfte entsprechend ihrer strukturellen Heterogenität ein vielfältiges, teilweise widersprüchliches Bild, das gleichermaßen von "Fanatismus, Kriegsmüdigkeit und Verweigerung" (III.3.) geprägt war. Ein erheblicher Teil der Soldaten verfolgte individuelle Überlebensstrategien um dem Krieg zu entkommen, was Kunz zufolge Ähnlichkeiten mit dem "Militärstreik" des Jahres 1918 aufwies. Genügend Soldaten führten den Kampf allerdings fort und gehorchten trotz Erschöpfung und Kriegsmüdigkeit den Befehlen ihrer Vorgesetzten. Die Anpassungsbereitschaft in den letzten Kriegsmonaten war nicht zuletzt auch ein Erfolg des immer blindwütigeren Disziplinierungsterrors, mit dem sowohl das Regime als auch viele Truppenführer auf die einsetzenden Auflösungserscheinungen reagierten.
Zu Kritik gibt vor allem das letzte Kapitel (III.4.) Anlass, das dem Anspruch einer "dezidierte[n] Auseinandersetzung mit der Akteursperspektive" (16) nicht immer gerecht wird. Die Ausführungen und die verwendeten Erinnerungsberichte vermitteln zwar vielfach eine plastische Vorstellung von den Befindlichkeiten der Soldaten, den chaotischen Zuständen und widersprüchlichen Erscheinungen des Zusammenbruchs. Doch auch wenn sich der Gegenstand aufgrund seiner Vielgestaltigkeit einer exakten Schematisierung entzieht, hätte wohl selbst ein vorsichtiger Entwurf einer "Typologie soldatischer Verhaltensformen in der Niederlage" (12) weiter getragen als die "atmosphärisch dichte Collage von Eindrücken und Bildern" (16), für die sich der Autor entschieden hat. Dass "die Betroffenen selbst zu Wort" kommen (289), veranschaulicht die Geschehnisse, doch gerät dabei stellenweise die Analyse zu kurz, wenn sich die Darstellung weitgehend auf die Aneinanderreihung von Zeugenberichten beschränkt (z. B. 307 f.). An dieser Collagetechnik leidet zum Teil auch die Stringenz der Gedankenführung. So wird z. B. nicht expliziert und bleibt unverständlich, welche Zusammenhänge zwischen den Impressionen vom "friedensmäßig anmutenden Dienstalltag" in den Heimatgarnisonen (293 f.) und dem Thema des Kapitels bestehen, das eigentlich "von Tätern und Opfern" handeln soll.
Ein weiterer, übergreifender Kritikpunkt betrifft die Quellenauswahl: Die Aktenbestände der Frontstäbe des Feldheeres wurden ohne nähere Begründung nur als "Ersatz- und Ergänzungsüberlieferung" (18) eingestuft, was dazu geführt hat, dass lediglich etwas mehr als zwei Dutzend Akten von Armee-, Korps- und Divisionsstäben herangezogen wurden. Das Handeln dieser maßgeblichen Zwischeninstanzen bleibt daher weitgehend im Dunkeln. So handelt z. B. das Kapitel über den Disziplinierungsterror des Regimes (III.3.c.) fast ausschließlich von den scharfen Befehlen der höheren und höchsten Führung, während man über die Umsetzung dieser normativen Verfügungen in den Truppenverbänden und deren Rolle im "Endphasenterror" kaum etwas erfährt. Auch aufgrund der Quellenauswahl bleibt die Darstellung über weite Strecken eine "Geschichte von oben".
Abgesehen von den genannten Einschränkungen liegt mit der Dissertation von Andreas Kunz eine instruktive, quellengesättigte Studie vor, die über das Handeln der obersten Führungsebenen, das innere Gefüge der Streitkräfte und die Rahmenbedingungen während des "Endkampfes" umfassend informiert.
Felix Römer