Caren Möller: Medizinalpolizei. Die Theorie des staatlichen Gesundheitswesens im 18. und 19. Jahrhundert (= Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2005, XII + 376 S., ISBN 978-3-465-03440-7, EUR 49,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Tobias Weidner: Die unpolitische Profession. Deutsche Mediziner im langen 19. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2012
Linda Clark / Carole Rawcliffe (eds.): Society in an Age of Plague, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2013
Marita Krauss: Die Frau der Zukunft. Dr. Hope Bridges Adams Lehmann, 1855-1916. Ärztin und Reformerin, München: Buchendorfer Verlag 2002
Dominik Groß: Beiträge zur Geschichte und Ethik der Zahnheilkunde, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006
Caren Möller legt eine rechtswissenschaftliche Dissertation zur "Theorie des staatlichen Gesundheitswesens im 18. und 19. Jahrhundert" vor. In zeitlicher und thematischer Hinsicht ausgehend von der erstmaligen Prägung des Begriffs der "medicinischen Policey" beziehungsweise "Medicinalpolicey" im Jahr 1764 stellt die Autorin zunächst Begriff und Aufgaben der Medizinalpolizei dar, insbesondere unter ausführlichem Rückgriff auf das Werk Johann Peter Franks (erschienen 1779-1827), des "Leitautors" (21) des zeitgenössischen medizinalpolizeilichen Schrifttums. Die begriffliche Erörterung verbleibt bei der Wiedergabe der im Schrifttum gefundenen Definitionen, während das Aufgabenspektrum in ausführlicher kasuistischer Darstellung abgeschritten wird. Als Fazit bleibt unter Einbeziehung auch der daran erhobenen Kritik das umfassende, jeden Gesundheitsbezug berücksichtigende und keine Privatsphäre zulassende Aufgabenfeld der Medizinalpolizei.
Im zweiten Kapitel stellt die Autorin die Bemühungen zur "staatlichen Regulierung und Optimierung der Bevölkerungsvorgänge" (57) dar, insbesondere unter Behandlung der vom besprochenen Schrifttum geforderten staatlichen Fortpflanzungskontrolle, hier vor allem der Schwangerenfürsorge, des Schutzes des ungeborenen Lebens und der Geburtshilfe. Möller schiebt hier wie auch im weiteren Fortgang der Arbeit standespolitische Erörterungen ein, etwa im Rahmen der Darstellung der Geburtshilfe in Bezug auf die Hebammen.
Möller legt im Rahmen der Erörterung des Staatsbezugs der bisher gewonnenen Ergebnisse den roten Faden ihrer Arbeit offen und stellt fest, "dass den in der medizinalpolizeilichen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhobenen Forderungen bevölkerungspolitische Ziele zugrunde lagen und die Medizinalpolizei folglich im Zusammenhang mit der Theorie der Bevölkerungspolitik zu sehen ist" (80 f.). Unter diesem Blickwinkel werden die dargestellten Bereiche wieder aufgegriffen und anhand der Behandlung von Schwangerschaft, Geburt, Ehepolitik und Selbstmord besprochen. Möller legt dar, dass nicht allein auf die Quantität der Bevölkerung, sondern auch auf deren Qualität das hauptsächliche Augenmerk der Medizinalpolizei gerichtet war. In einem Exkurs vergleicht sie hierbei die dahingehenden Ziele und Beweggründe der Medizinalpolizei mit denen des Nationalsozialismus, um festzustellen, dass in ersterer zwar Vorläufer der Eugenik zu sehen, sie jedoch mit dem Programm der nationalsozialistischen Rassenlehre nicht gleichzusetzen sei (114-116).
Das dritte Kapitel wendet sich den staatsrechtlichen Grundlagen zu, zunächst vor allem der auf drei Seiten recht kurz diskutierten Staatszwecklehre, dann den Zusammenhängen zwischen Kameralismus und Medizinalpolizei, um schließlich feststellen zu können, dass die Ziele der Medizinalpolizei der Kameralistik entsprachen und insbesondere auf wirtschaftliche Prosperität ausgerichtet waren. Darauf folgt die Darstellung der jüngeren Diskussion um Deutungsmodelle der Medizinalpolizei. Doch weder Professionalisierung, Sozialdisziplinierung noch Philanthropie will Möller als wesentliches, hauptsächliches Charakteristikum anerkennen; das hauptsächliche Ziel sei immer das ökonomische und machtpolitische der "Peuplierung" geblieben.
Das vierte Kapitel wendet sich sodann der Jahrhundertwende und den neuen Gedanken zu, insbesondere dem Wandel der Staatszwecklehre nach Kant und deren Folgen. Die hier gewonnenen Ergebnisse werden im folgenden Kapitel sogleich allerdings wieder relativiert: Der dargestellte Wandel war von kurzer Dauer und wurde nur von wenigen getragen. Das neue Jahrhundert hielt, so Möller, an der Notwendigkeit umfassender staatlicher Tätigkeit im Gesundheitssektor fest. Die Begründung der Autorin hierfür bezieht die Modifizierung der Staatszwecktheorie ebenso mit ein wie die von ihr festgestellte Ambivalenz des liberalen, bevormundenden Staatsmodells, ferner den Umstand, dass auch im neuen Jahrhundert an dem Ziel des Bevölkerungswachstums festgehalten worden sei. Hieran anknüpfend behandelt die Autorin die Problematik der Bevölkerungszunahme (Pauperismus), die Krisenprognose Malthus' sowie die daran anschließenden Stellungnahmen der zeitgenössischen Literatur. Im vorletzten Kapitel geht es folgerichtig um das Spannungsfeld der Gewerbefreiheit, auf welchem Gesundheit und ökonomische Ziele einander widerstreiten: Das Problem muss durch eine Abwägung der Interessen gelöst werden, was indes nicht überrascht. Das letzte Kapitel ist der Medizinalreform der Jahrhundertmitte gewidmet. Erneut wird den damaligen standespolitischen Überlegungen viel Raum gewährt.
Möllers Arbeit, welche die Lücke einer zusammenfassenden historischen Darstellung der Geschichte der Medizinalpolizei thematisch schließt, stellt sich als reichhaltige Sichtung des medizinalpolizeilichen Schrifttums dar und bietet viele interessante Einzelheiten, so die oft festzustellende Modernität der zeitgenössischen Überlegungen, etwa zum Schutz des Ungeborenen, des Arbeitsschutzes, Mutterschutzes oder des Immissionsschutzes. Im Rahmen dieser theoriegeschichtlichen Arbeit, welche in Anspruch nimmt, in methodischer Hinsicht auf breiter Quellenbasis neben den "klassischen Texten" auch die "mittlere Textebene" einzubeziehen, verzichtet die Autorin bewusst auf die Darstellung der praktischen Umsetzung der literarischen Forderungen. Leider werden dabei abgesehen von der Bevölkerungszunahme die tatsächlichen Gegebenheiten wie etwa die Säuglings- und Müttersterblichkeit, die Kindersterblichkeit et cetera vernachlässigt.
Die sehr häufigen, meist längeren Quellenzitate werden direkt als Argumente für die eigene These verwendet, ohne dass sich eine eigene tiefere Interpretation derselben anschließt. Man vermisst eine Differenzierung zwischen den einzelnen Territorien ebenso wie eine Auseinandersetzung mit den einzelnen Autoren, beispielsweise wenn es heißt: "Sehr deutlich brachte dies Wilhelm v. Humboldt 1851 zum Ausdruck: [...]" (206), worauf ein Zitat aus Humboldts Jugendschrift folgt, den "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen": Diese war zwar 1851, 16 Jahre nach Humboldts Tod, erstmals in Druck gegeben, aber bereits 1792 verfasst worden. Auch bleibt die jeweilige persönliche Motivation der einzelnen Autoren unklar, insbesondere in Bezug auf ihren wiederholt festgestellten Willen zur wirtschaftlichen Prosperität des Staates.
Bisweilen wäre eine nähere Durchdringung des Stoffes wünschenswert gewesen. So erfährt die "Medizinalpolizei" keine schärfere begriffliche Klärung und Abgrenzung, etwa im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Sanitäts- und Gesundheitspolizei; eine Einordnung der "medicinischen Policey" in die allgemeine Diskussion des Begriffs der "Policey", wie sie etwa in dem Werk Peter Preus dargestellt ist, wird nicht vorgenommen. [1]
Insgesamt liegt damit in dem Werk eine interessante, gleichwohl aber viele Fragen offen lassende Arbeit vor, die Ausgangspunkt weiterer Überlegungen sein kann.
Anmerkung:
[1] Peter Preu: Polizeibegriff und Staatszwecklehre. Die Entwicklung des Polizeibegriffs durch die Rechts- und Staatswissenschaften des 18. Jahrhunderts (= Göttinger rechtswissenschaftliche Studien; Bd. 124), Göttingen 1983.
Wolfram Kerscher