Karin Hunn: "Nächstes Jahr kehren wir zurück ...". Die Geschichte der türkischen "Gastarbeiter" in der Bundesrepublik (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 11), Göttingen: Wallstein 2005, 598 S., ISBN 978-3-89244-945-4, EUR 46,00
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Elia Morandi: Italiener in Hamburg. Migration, Arbeit und Alltagsleben vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004
Es tut sich derzeit viel in der historischen Migrationsforschung. [1] Unter den zahlreichen neuen Publikationen zum Thema sticht eine besonders heraus: Karin Hunns Studie zu den türkischen Gastarbeitern. Ausgesprochen geschickt verbindet die Autorin darin Politik-, Sozial- und Erfahrungsgeschichte zu einer modernen Gesellschaftsgeschichte der türkischen Einwanderung in die Bundesrepublik zwischen dem Anwerbeabkommen von 1961 und dem Gesetz zur Rückkehrförderung von 1983. Wie das Buch Hunns schön verdeutlicht, war und ist die türkische Migration alles andere als eine Erfolgsstory der Bundesrepublik. Über weite Strecken schreibt die Autorin vielmehr eine Geschichte der Fehleinschätzungen, Versäumnisse und Defizite. Am gravierendsten war, dass weder der türkische noch der westdeutsche Staat jemals eine kohärente langfristige Migrationspolitik entwickelten. Der Türkei war es allein darum bestellt, den von struktureller Arbeitslosigkeit geplagten heimischen Arbeitsmarkt zu entlasten und Devisen zur Stabilisierung der desolaten Wirtschaft zu beschaffen. Die kostenträchtige soziale, kulturelle wie religiöse Betreuung der Gastarbeiter in Westdeutschland stand hingegen nicht auf der Prioritätenliste - ganz zu schweigen von durchdachten Wiedereingliederungshilfen für die Rückkehrer.
Der Bundesrepublik auf der anderen Seite ging es letztlich allein um die billige Arbeitskraft. Angesichts eines beinahe leer gefegten Arbeitsmarktes hatte der westdeutsche Staat zwar ein großes Interesse an kostengünstiger manpower, doch sollten die "Gastarbeiter" im Falle einer rückläufigen Konjunkturentwicklung die Bundesrepublik möglichst schnell wieder verlassen. An eine dauerhafte Zuwanderung war nicht gedacht, sodass keine Konzepte für eine etwaige Integration in die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft existierten.
Erste Probleme ergaben sich bereits 1966, als die Bundesrepublik eine leichte Wirtschaftskrise erlebte. Nun zeigte sich, dass die türkischen Arbeiter lediglich eine konjunkturelle Reservearmee darstellten: Etliche wurden umgehend entlassen und mussten in ihre Heimat zurückkehren. Zwar stieg die Zahl der türkischen Arbeitskräfte nach der bald darauf einsetzenden wirtschaftlichen Konsolidierung stark an und erreichte 1973 mit etwa 600.000 einen vorläufigen Höchststand. Doch wurden von nun an türkische Gastarbeiter immer mehr als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen (obwohl sie gerade Arbeiten verrichteten, die Deutsche nicht mehr leisten wollten) und erfuhren entsprechend starke Anfeindungen.
Ausgelöst offensichtlich durch den Bericht des Club of Rome über die "limits of growth" entspann sich ab 1972 eine Diskussion um Grenzen der Integrierbarkeit. In der emotional geführten öffentlichen Debatte, die von der christdemokratischen Opposition angefacht wurde, kam auch völkisches Gedankengut aus der Zeit vor 1945 zum Tragen: Wissenschaftlich verbrämt wurde von einer vermeintlich ethnisch homogenen deutschen Einheitsgesellschaft gesprochen, in die die Türken nicht aufgenommen werden könnten, nicht nur weil sie kulturell nicht integrierbar seien, sondern weil sonst ein "Vielvölkerreich" auf deutschem Boden entstünde. Sogar von "Lebensraum" war die Rede, den die türkischen Migranten angeblich durch ihre Präsenz einengten.
Vor diesem Hintergrund sah sich die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt zu erheblichen Restriktionen gezwungen, die aber letztlich alle ihre Zielsetzung, die Zahl der Gastarbeiter zu begrenzen, verfehlten. Der Anwerbestopp von Ende 1973 erreichte sogar das genaue Gegenteil: Über den Weg des Familiennachzugs stieg die Zahl der türkischen Migranten noch einmal stark an. Auf Grund der miserablen wirtschaftlichen Verhältnisse in ihrem Heimatland zog es die Mehrzahl der Türken nämlich vor, sich längerfristig in Westdeutschland einzurichten, statt Abfindungsprämien in Anspruch zu nehmen und in die Türkei zurückzukehren, wo sie beruflich eine höchst ungewisse Zukunft erwartete.
Trotz der rührigen Arbeit deutscher Betreuungsorganisationen wie der Arbeiterwohlfahrt kam es in der Folgezeit zu einer zunehmenden Abkapselung der türkischen Migranten. Diese Entwicklung nahm ihren Ausgang zum einen in der ideologischen Indoktrinierung durch rechtsgerichtete Kreise in der Türkei, die ihre Landsleute im Ausland über diverse islamistische Organisationen von westlichen Einflüssen fern zu halten suchten. Wie Hunn betont, setzten weder der türkische noch der westdeutsche Staat dem etwas entgegen.
Die Abwendung vieler Türkinnen und Türken war zum anderen eine Reaktion auf die zunehmende Ablehnung, die ihnen vonseiten großer Teile der deutschen Gesellschaft entgegen schlug. In der öffentlich-politischen Diskussion wurden sie nicht nur als reine Belastung des Sozialstaats hingestellt, weil überdurchschnittlich viele damals infolge der seit Mitte der Siebzigerjahre einsetzenden Strukturkrise ihre Arbeitsplätze verloren. Die Diskriminierung zeigte sich auch daran, dass man ihnen den Bau von Moscheen verwehren wollte. Lange vor Solingen und Mölln wurden Türken schließlich Opfer ausländerfeindlicher Gewalttaten. Kenntnisreich beschreibt Karin Hunn damit die historische Genese von Problemen, welche die interessierte Öffentlichkeit in Deutschland derzeit so sehr umtreiben und die gemeinhin auf das Schlagwort der "Parallelgesellschaft" reduziert werden.
Langfristig betrachtet zeitigte die türkische Migration aber auch positive Wirkungen. Seit den frühen Siebzigerjahren treten türkische Mitbürger zunehmend als Unternehmer auf. Als Gemüsehändler, Imbissbudenbesitzer oder Tourismusanbieter haben sie nicht nur eine erhebliche Zahl neuer Arbeitsplätze geschaffen, die inzwischen auch von Deutschen besetzt werden. Nach Meinung Karin Hunns haben sie damit auch zu einer deutlichen "kulturellen Pluralisierung" der Bundesrepublik beigetragen.
An der flüssig geschriebenen und klar strukturierten Studie Karin Hunns ist eigentlich nur auszusetzen, dass man manchmal gerne noch mehr erfahren hätte. Etwas unterbelichtet bleibt etwa in der sehr auf den Staatsapparat konzentrierten Studie die Haltung der Parteien in der Gastarbeiterpolitik. So ist beispielsweise für die Zeit nach dem Machtwechsel von 1969 zu fragen, ob die von der Autorin beschriebenen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem von der SPD geführten Arbeitsministerium auf der einen sowie dem Innenministerium und dem Auswärtigem Amt, denen jeweils ein FDP-Minister vorstand, auf der anderen Seite nur Ressortkonflikte waren, oder ob sich in ihnen nicht auch parteipolitisch bedingte Unterschiede widerspiegeln. Wie Karin Hunn zeigen kann, votierte Walter Arendt ja für mehr Integration, während sich Hans-Dietrich Genscher und Walter Scheel für strikte Begrenzungen aussprachen. Auch hätte es weiter führend sein können, wenn die Autorin in ihrem Resümee noch einmal zusammenfassend die Besonderheiten der türkischen Migration im Vergleich zu der der Italiener oder Griechen behandelt hätte, auf die sie im Text an verschiedenen Stellen eingegangen ist. Solche Einwände sollen aber den Wert dieser hervorragenden Arbeit, an der sich künftige Forschungen zur Migration zu orientieren haben, keinesfalls schmälern.
Anmerkung:
[1] Allein zur italienischen Migration sind neuerdings zwei Studien entstanden: Yvonne Rieker: "Ein Stück Heimat findet sich ja immer". Die italienische Einwanderung in die Bundesrepublik, Essen 2003; Elia Morandi: Italiener in Hamburg. Migration, Arbeit und Alltagsleben vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2004.
Patrick Bernhard