Michael Schmidtke: Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er-Jahre in der Bundesrepublik und den USA (= Campus Historische Studien; Bd. 34), Frankfurt/M.: Campus 2003, 314 S., ISBN 978-3-593-37253-2, EUR 34,90
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Lange hat es gedauert, bis sich die historische Forschung des Themas "1968" annahm. Erst zum dreißigjährigen "Dienstjubiliäum" der Studentenrevolte im Jahr 1998 geriet das "Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft", als sich um die Bielefelder Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey eine eigene Forschungsgruppe bildete. [1] Die erste dieser Arbeiten liegt nun vor. Es handelt sich um die Dissertation von Michael Schmidtke, die in vergleichender und beziehungsgeschichtlicher Perspektive Formierung, Entwicklung und Niedergang des Protestes in den USA und der Bundesrepublik behandelt. Schmidtke fragt dabei zum einen nach der Bedeutung, die die Ideen der "Neuen Linken" für die "kognititive Orientierung" und die Aktionen der Protestbewegung besaßen. Im Zentrum seiner Studie steht jedoch eine andere, höchst innovative Fragestellung: Welche Wirkung entfalteten diese Ideen darüber hinaus in der westdeutschen Gesellschaft? Schmidtke geht es also auch um eine Folgengeschichte des Protestes und er nimmt dazu eine Vielzahl von Themen in den Blick - angefangen bei den Notstandsgesetzen und der Opposition gegen den Vietnamkrieg über Kunst und Medien bis hin zur Frauen- und Dritte-Welt-Bewegung.
Was die Protestbewegung selbst betrifft, kommt Schmidtke zu interessanten Befunden. Obwohl in der Öffentlichkeit wie in der Forschung immer wieder der vermeintlich globale Charakter der Revolte hervorgehoben wird, gab es kaum nennenswerte Austauschprozesse zwischen den nationalen Bewegungen. Mehr noch: Schmidtke zeigt, dass sich die deutschen Studenten teils bewusst vom amerikanischen Vorbild abgrenzten, um die eigene intellektuelle Unabhängigkeit zu unterstreichen. Schmidtke bekräftigt zudem die seit längerem innerhalb der Sozialforschung vorgebrachten Zweifel an der These, ein Generationenkonflikt sei die tiefere Ursache für das Aufkommen der Revolte gewesen. Wie seine Studie unterstreicht, stammten die radikalen Studenten im Gegenteil zumeist aus liberalen Elternhäusern und stimmten politisch weitestgehend mit diesen überein.
Wie fruchtbar der historische Vergleich sein kann, zeigt ein anderes von Schmidtke behandeltes Thema: Studentenbewegung und Faschismus. Der Autor bringt nämlich die landläufige Meinung ins Wanken, die Auseinandersetzung mit dem Faschismus sei ein deutsches Spezifikum in der internationalen Studentenbewegung gewesen. Auch in den USA erging sich die "Neue Linke" in vielfachen Faschismusvorwürfen, nicht zuletzt gegen die US-Vietnampolitik. Das lag daran, dass die Debatte keine ausschließlich historische war: Den Aktivisten ging es vielmehr auch darum, die anthropologisch-soziologischen Wurzeln eines angeblich nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu beobachtenden Faschismus freizulegen, dessen Wurzeln sie im "autoritären Charakter" und somit in einer allgemeinen mentalen Disposition des Menschen für Befehl und Gehorsam vermuteten.
Was die Folgen der Protestbewegung anbelangt, waren es dem Autor zufolge nicht die Studenten selbst - sie seien immer nur eine Minderheit gewesen und hätten den "Marsch durch die Institutionen" in den allermeisten Fällen gar nicht geschafft -, sondern die von ihnen vermittelten Ideen der "Neuen Linken", die in der Gesellschaft teils erhebliche Wirkung entfalteten. Als "Deutungselite" hätten sie unter Rückgriff auf Marcuse gesellschaftliche Problemlagen analysiert, diese für andere gesellschaftliche Akteure in größere Bedeutungszusammenhänge gestellt und dadurch sinnstiftend gewirkt. So hätten sie ein erhebliches Protestpotenzial mobilisiert, das die öffentliche Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Brennpunkte gelenkt habe. Zugleich hätten die "68-er" mit der Gründung von Gegeninstitutionen wie Kinderläden und Alternativzeitungen antibürokratische und partizipatorische Vorstellungen weit in die Gesellschaft getragen und dadurch mitgeholfen, die Demokratie in der Bundesrepublik auch mental zu verankern. Oftmals waren nach Schmidtke die von der Bewegung gar nicht beabsichtigten Folgen des Protestes jedoch viel gravierender: Andere gesellschaftliche Gruppen wie Künstler, Hochschulassistenten oder auch junge Parteimitglieder hätten studentische Forderungen wie die nach Demokratisierung nur aufgegriffen, um damit eigene Interessen in internen Positionskämpfen zu verfolgen. Ob nun intendiert oder nicht - insgesamt hätten die "68-er" so stark als "Katalysator" des sich zwischen Ende der 50-er Jahre und den frühen 70-er Jahren vollziehenden gesellschaftlichen Wandels gewirkt, dass von dieser Zeit als den "68-er Jahren" gesprochen werden müsse.
An diesen Einschätzungen ist jedoch Kritik anzumelden. Blickt man auf einige der von Schmidtke behandelten Einzelthemen, so widerspricht sich der Autor bei den Mobilisierungserfolgen der radikalen Studenten bereits selbst. Ausdrücklich hält Schmidtke fest, dass sich die allermeisten Gegner der Notstandsgesetze eben nicht deren Sichtweise zu eigen machten. Das "Deutungsmonopol" habe vielmehr bei linksliberalen Kräften und der alten Linken gelegen.
Problematisch sind auch Schmidtkes Ausführungen, wenn es um die Verbreitung der "Ideen von 68" unter anderen gesellschaftlichen Gruppierungen geht. So kann der Autor etwa im Fall der Hochschulen nur spekulieren, nicht aber nachweisen, dass der konservative RCDS nach 1968 die Demokratisierungsvorstellungen des SDS aufgriff. Nachdem Forderungen nach Partizipation in ganz unterschiedlichen Kreisen bereits seit Ende der 50er Jahre erhoben wurden, wären auch ganz andere Ideengeber denkbar. [2] Dass Schmidtke eine derart wichtige Frage nicht beantworten kann, liegt an einer entscheidenden methodischen Schwäche seiner Arbeit: Zum einen berücksichtigte er die vielfältigen gesellschaftlichen Diskussionen vor 1968 nur unzureichend. Zum anderen hat es Schmidtke weitestgehend unterlassen, das Archivmaterial zu sichten, das möglicherweise Aufschluss darauf geliefert hätte, wie genau dieser Ideentransfer in den einzelnen Bereichen verlief.
Ähnlich spekulativ ist Schmidtkes These, die Gegeninstitutionen der "68-er" hätten als "Drehscheiben" bei der inneren Demokratisierung der Bundesrepublik gewirkt. Angesichts der geringen Zahl von 50.000 Personen, die in Stadtteilgruppen, Betriebsbasisgruppen und Kinderläden aktiv waren, fristeten diese Initiativen doch wohl eher ein Nischendasein. Überhaupt dürfte das Gedankengut der "68-er" wesentlich weniger Wirkung gezeitigt haben, als Schmidtke unterstellt. Blickt man auf die derzeit entstehenden Studien, die sich auf der Grundlage einer breiteren Fragestellung und in Langzeitperspektive mit der Geschichte einzelner Politikfelder, staatlicher Organisationen sowie sozialer Milieus in der Bundesrepublik beschäftigen, so ergibt sich jedenfalls ein ganz anderes Bild. [3] Danach setzte ein breiter gesellschaftlicher Aufbruch bereits weit vor 1968 ein, begann der Staat lange vor dem studentischen Aufbegehren mit weittragenden Reformen, lösten sich überkommene Mentalitäten viel stärker durch den rasanten sozioökonomischen Strukturwandel auf als durch das Aufbegehren einer radikalen Minderheit. Ulrich Herbert scheint es sogar so, als seien die "68-er" nichts weiter als "Epigonen" gewesen, die bereits bestehende gesellschaftliche Forderungen lediglich aufgriffen und dann radikalisiert hätten, um sich von den Reformern zu emanzipieren. [4] In der Zunft dürfte die flott und anregend geschriebene Studie Schmidtkes, die durchaus wichtige Einsichten in die Binnenentwicklung der Bewegung vermittelt, aufgrund ihrer problematischen Aussagen zu den Folgen von "68" noch einige Kritik auf sich ziehen.
Anmerkungen:
[1] 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, herausgegeben von Ingrid Gilcher-Holtey, Göttingen 1998.
[2] Moritz Scheibe: Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, herausgegeben von Ulrich Herbert, Göttingen 2002, 245-277.
[3] Den Forschungsstand zusammenfassend: Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, herausgegeben von Matthias Frese, Julia Paulus und Karl Teppe, Paderborn 2003. Vgl. hierzu die Rezension von Sybille Steinbacher in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 3; URL: http://www.sehepunkte.de/2004/03/5018.html
[4] Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte. Eine Skizze, in: Wandlungsprozesse in Westdeutschland, 7-49. Vgl. hierzu die Rezension von Winfried Süß in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 1; URL: http://www.sehepunkte.de/2004/01/4886.html
Patrick Bernhard