Klaudia Knabel / Dietmar Rieger / Stephanie Wodianka (Hgg.): Nationale Mythen - kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung (= Formen der Erinnerung; Bd. 23), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 289 S., 16 Abb., 6 Graphiken, ISBN 978-3-525-35581-7, EUR 42,90
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Nationale Mythen und Symbole stellen Medien der Erinnerung dar, sie unterliegen nicht nur semiotischen und diskursiven Prozessen der Aufrufung, sondern auch performativen und medialen Bedingungen der Inszenierung. Insofern sind sie als Narrationen und Zeichen zu verstehen, die einen nicht-existenten Referenten vergegenwärtigen. Homi Bhabha hat diesen Prozess des Repräsentierens, des Schreibens der Nation als aufgespalten beschrieben: aufgespalten zwischen dem Versuch der historischen Fundierung und der aktuellen Inszenierung. [1] In dieser Ambivalenz sind auch nationale Mythen und Symbole verhaftet: zum einen verweisen sie auf eine (imaginierte) Vergangenheit, zum anderen werden sie stets in der und für die Gegenwart aktualisiert. Der vorliegende Sammelband ist in diesem theoretischen Feld verortet und beabsichtigt die Konstruktions- und Funktionsweisen von nationalen Mythen und Symbolen angesichts veränderter postmoderner Identitäten einer Revision zu unterziehen und auf ihre Tragfähigkeit für neu entstehende Kollektive zu untersuchen.
Ausgehend von Lyotards Prognose, dass Globalisierung und Spätkapitalismus mythischer Meta-Narrationen nicht mehr bedürfen, beschäftigt sich der erste Teil mit der aktuellen Relevanz von kollektiven und nationalen Mythen. Yves Bizeul führt einige mythische Großerzählungen an und verweist auf deren Verwobenheit mit den "Mythen des Alltags" (Barthes). Globale Mythen, wie der "clash of civilizations" (Huntington) oder die biotechnologische Erklärbarkeit der Welt, sind nach Bizeul ebenso integrativ, sinnstiftend und totalitär funktionalisierbar, wie das bei den lang tradierten nationalen Mythen der Fall war und ist.
Stephanie Wodianka zeigt in ihrer Analyse moderner Dramatisierungen des Jeanne-d'Arc-Stoffes, dass diese zu einer erneuten Öffnung des überholt geglaubten Mythos beitragen. Mit Barthes argumentiert sie, dass das meta-mythische Drama den Mythos zwar dekonstruiert, gleichzeitig aber performativ reinszeniert. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Klaudia Knabel, Dietmar Rieger und Stephanie Himmel, die je unterschiedliche Aspekte des Jeanne-d'Arc-Mythos untersuchen.
Claus Leggewie schließlich richtet seinen Blick auf Formen der Erinnerungskultur, die von migrantischen Gruppen und Minoritäten genutzt und von der Dominanzgesellschaft nur langsam wahrgenommen werden, wie die "Kanakisierung" der Sprache oder die Hip-Hop-Szene. Diese neuen Medien der Erinnerung ermöglichen es, den pluralen Erfahrungen und Identitäten in den heutigen transkulturellen Gesellschaften gerecht zu werden. Für weitere Diskussionen offen bleibt der Widerspruch zwischen den nationalen Orten der Erinnerung, die François/Schulze für die Mehrheitsgesellschaft festschreiben und von denen sich Leggewie mit seinem Gegenentwurf einer mental map abgrenzt. Könnte die eher oral geprägte transkulturelle Erinnerungskultur nicht auch als alternatives Ausdrucksmittel von minoritären Gruppen verstanden werden, die (noch) nicht die Macht zur Verortung ihrer Erinnerung innehaben?
Der zweite Teil des Bandes widmet sich verstärkt den Umdeutungsprozessen und Rekonfigurationen von nationalen Mythen und Symbolen. Joseph Jurt zeichnet die Entstehung der Allegorie der französischen Republik, der Marianne, als Gegenentwurf zur Jeanne d'Arc nach. Als einer der wenigen Beiträge zur Gender-Thematik wäre es wünschenswert gewesen, wenn über die Naturalisierung politischer Konzepte hinaus neuere Fragestellungen zum Komplex der geschlechtlichen Codierungen des Nationalen berücksichtigt worden wären wie z. B. nach der Bedeutung der allegorischen Form oder dem Wechselspiel zwischen dem Ausschluss aus dem Bereich des Politischen und der Repräsentation des Politischen. [2]
Wulf Wülfing lenkt den Blick auf potenzielle Gegenfiguren zu Königin Luise und ihrer mythologischen Erhöhung als "Mutter" der deutschen Nation. Kandidatinnen wie Rahel Varnhagen oder Bettina von Arnim eignen sich jedoch auf Grund ihrer freiheitlichen Lebenseinstellungen bis heute nicht für Mythisierungen.
Mit seiner Mikroanalyse des monument aux morts zum Ersten Weltkrieg in Levallois-Perret macht Andreas Wirsching darauf aufmerksam, dass auch die französische Linke Erinnerungspolitik betrieb. Deren Form der Erinnerung unterschied sich gleichwohl durch die pazifistische und kritische Perspektive von dem nationalistisch geprägten Vorbild und führte in Levallois-Perret zu erheblichen Kontroversen.
Der dritte Teil verspricht die medialen Vermittlungen des Erinnerns zu thematisieren. Was diesen Teil von den vorhergehenden Sektionen unterscheidet, ist die Schwerpunktsetzung auf Massenmedien wie den Film, Kinderbücher oder Comics. Die mediale Vermittlung aber und deren spezifischer Einfluss auf die Erinnerung [3], wie sie sich etwa im Wechselspiel von der Flüchtigkeit der neuen Medien und der Flüchtigkeit der Erinnerung andeutet, bleibt ein Desiderat des Bandes. So zeigen Hans-Jürgen Lüsebrink und Rainer Rother, dass im Film so konträre Phänomene wie die Rückkehr der verdrängten Erinnerung im frankokanadischen Kontext oder die Mythologisierung der Figur Bismarcks durch die NS-Filmindustrie möglich sind. Das Spezifische des Films im Gegensatz zur Narration, zum Comic oder zum Denkmal als Medium der Erinnerung bleibt jedoch eine offene Frage.
Winfried Speitkamp lenkt den Blick auf einen völlig neuen Bereich der Erinnerungskultur, nämlich das verordnete staatliche Konzept der "Authentizität", mit dem in Zaire (heute Kongo) versucht wurde, westlich-demokratische Errungenschaften mit afrikanischer Eigenständigkeit zu verbinden bei gleichzeitiger Verankerung diktatorischer Machtverhältnisse. Diesem gescheiterten Konzept der "Authentizität" steht heute der Versuch gegenüber, mittels Wahrheits- und Versöhnungskommissionen ein individuelles Erinnern zu ermöglichen. Hier wird nicht nur die Vermittelbarkeit von Mythen angesprochen, sondern auch der Komplex der Stabilisierung - und Subversion - von Machtverhältnissen. Inwieweit dies auch eine Frage des Medialen darstellt, bleibt künftigen Forschungen vorbehalten.
Wenngleich die Gespaltenheit des Bandes - mit einem deutlichen Übergewicht von Beiträgen zum Jeanne-d'Arc-Mythos einerseits und ungleich heterogeneren Fragestellungen, die von der Erinnerungskultur der Deutsch-Türken über den Nationalsozialismus, den frankokanadischen Widerstand oder die Politik postkolonialer afrikanischer Staaten reichen, andererseits - etwas irritiert, so zeigen die einzelnen Beiträge auf spannende Weise, wie in Zeiten der großen Mythisierung des Globalen altbekannte Mythen und Symbole reinszeniert und vielfach umgedeutet werden, aber auch wie neue Mythen auf der Grundlage veränderter medialer Bedingungen entstehen, die divergierenden Bedürfnissen nach Stabilität, Integration in neue Kollektive und Sinnstiftung gerecht werden.
Anmerkungen:
[1] Homi Bhabha: DissemiNation: time, narrative, and the margins of the modern nation, in: ders. (Hg.): Nation and Narration, London/New York 1990, 291.
[2] Vgl. z. B. Silke Wenk: Versteinerte Weiblichkeit: Allegorien in der Skulptur der Moderne. Köln/Weimar/Wien 1996 oder Ida Blom u. a. (Hg.): Gendered Nations: Nationalisms and Gender Order in the Long Nineteenth Century, Oxford/New York 2000.
[3] Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.
Angela Koch