Gesa Mackenthun / Andrea Nicolas / Stephanie Wodianka (eds.): Travel, Agency, and the Circulation of Knowledge (= Cultural Encounters and the Discourses of Scholarship; Vol. 9), Münster: Waxmann 2017, 313 S., ISBN 978-3-8309-3567-4, EUR 34,90
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Ilya Berkovich: Motivation in War. The Experience of Common Soldiers in Old-Regime Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2017
Leila Koivunen: Visualizing Africa in Nineteenth-Century British Travel Accounts, London / New York: Routledge 2009
Adam Jones: Afrika bis 1850, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2016
Der Band aus der Publikationsreihe des Rostocker DFG-Graduiertenkollegs "Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs" verbindet die Kontaktsituation des Reisens mit zwei anspruchsvollen theoretischen Konzepten, dem der Handlungsmacht ("agency") und dem der Wissenszirkulation. Anhand von Fallbeispielen vom Spätmittelalter bis ins Zeitalter der Digitalisierung stellen sich die Beiträge der Herausforderung der Publikationsreihe, "to test and explore contemporary theoretical concepts and analytical tools used for the study of intercultural relations" (Klappentext).
Einleitend werden Reisen in der "longue durée" (8) als trans- wie interkulturelle Praxis identifiziert. Dabei verweist schon die etymologische Beziehung zwischen "travel" (Reisen) und "travail" (Mühsal) (7) auf eine zentrale Unterscheidung, welche die Herausgeberinnen unter Verweis auf James Cliffords Anthropologie der Mobilität weiter ausführen: Der Lust an Reisen und Begegnungen wird die Härte unfreiwilliger Mobilität gegenübergestellt. Leider wird diese grundlegende Unterscheidung in den Einzelbeiträgen höchstens noch am Rande gestreift. Die Einleitung setzt die bereits im Titel genannten Konzepte zu Themenkomplexen in Beziehung, in denen Reisen sehr unterschiedlich diskutiert werden: Der enge Konnex von Mobilität mit Handel und europäischer Expansion schafft demnach materielle und epistemische Grundlagen, die sich in der Untersuchung von Reisen als Text und Diskurs, worin der Schwerpunkt des Bandes liegt, niederschlagen. Dabei lässt die Einleitung offen, in welchem Verhältnis Empirie und Diskursstrukturen stehen. Vielmehr zeigen Überlegungen zu Wissenszirkulationen, mit welcher Leichtigkeit Reisediskurse "transdisciplinary and transgeneric migrations" (15) durchführen. Dennoch dürfe nicht vergessen werden, dass in Reiseberichten durch die Fixierung ethnographischen Wissens auch epistemische Gewalt ausgeübt worden sei. Dem stehen aktuelle Forschungsansätze gegenüber, in denen "lokales" Wissen, die Handlungsmacht "der Bereisten" ("travelees", 18) und Reisen in die Gegenrichtung (zur europäischen Expansion) thematisiert werden. Schließlich wird die metaphorische Verwendung von Reise und Mobilität noch knapp angesprochen, wie sie v. a. in der postkolonialen Theorie populär geworden ist - mittlerweile aber auch wieder als kapitalistisch-kolonialistisch geprägte Vorstellung kritisiert wird. In diesem dichten Überblick zu Theorien und Analyseansätzen finden sich immer wieder Verweise auf Einzelkapitel, doch folgen die fünf Abschnitte, in welchen die Beiträge des Bandes angeordnet sind, dann einer anderen Systematik.
Die Kapitel des ersten Abschnitts gehen den Verbindungen zwischen Reisen und natur- bzw. literaturwissenschaftlichem Wissen nach: Ottmar Ettes weit ausgreifender Beitrag zieht "transareale" Verbindungslinien von Reiseberichten der Aufklärung zur poststrukturalistischen Theorie. Demgegenüber betont Hanna Hodacs' Untersuchung zu den botanischen Exkursionen von Linnés Schülern, um Uppsala und in der Welt, den Einfluss von Lokalwissen in der Aufklärungsepoche. Brückenschläge zwischen Wissenssystemen und Empirie wie zwischen Imperialismus und "anti-conquest" (M. L. Pratt) vollzieht Gabriele Dürbeck am Beispiel von Adelbert von Chamissos "archivalischer" Dokumentation der russischen Pazifikexpedition 1815-17.
Der folgende Abschnitt illustriert an drei faszinierenden Beispielen, dass "epistemischer Austausch" selbst im Kolonialzeitalter möglich war. Während Leila Goméz anhand der oft geisterhaft verschwommenen (literarischen) Figur des lateinamerikanischen "Pfadfinders" zeigt, wie sich koloniale Reiseautoren selbst lokale Autorität zuschrieben, widmen sich Mary Baine Campbell und Bruce Greenfield der Präsenz explizit indigener Stimmen in Texten aus dem kolonialen Nordamerika.
Während die Träume der Huronen und Algonkin oder die Jagd- und Handelsdialoge der Cree nur in Aufzeichnungen von Europäern überliefert sind, fragt der dritte Abschnitt des Bandes nach unvermitteltem "Gegen-Wissen" außereuropäischer Akteure. Daniel Newman betrachtet nordafrikanische Beispiele des arabischen "rihla"-Genres der Reisebeschreibung und arbeitet dabei Unterschiede zwischen eher pro-kolonialen algerischen und deutlich kritischeren marokkanischen Texten heraus. Einen ganz anderen Zugang zu Weltkenntnis hatte, wie Michael Harbsmeier beschreibt, Japan in der Epoche seiner Isolation unter der Herrschaft der Shogune (17.-19. Jh.), wo sich Ankömmlinge intensiver behördlicher Kontrolle und Befragungen ausgesetzt sahen.
Der folgende Abschnitt zu "Poetiken des Reisens" fokussiert stärker auf die Textualität von Reisebeschreibungen. Hier entsteht eine fruchtbare Spannung aus der Frage, wie sich die Konstruktion der bereisten Welt im Text zur Reiseerfahrung verhält. In kritischer Auseinandersetzung mit verschiedenen Textversionen und Kontextualisierungen plädiert Sharon Kinoshita dafür, in Marco Polos berühmtem "Devisement du monde" (ca. 1310) stärker auf transkulturelle "Zusammenflüsse" (240) von Textanteilen zu achten. Rupert Gaderer identifiziert den Tornister, den Johann Gottfried Seume auf seinem "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802" mitführte, als zentrales Symbol für Seumes Konzeption "authentischen" (260) Reisens, das zu Fuß näher an die Menschen im Reiseland heranführe. Der Beitrag von Friedrich Wolfzettel betont demgegenüber an vier Romanbeispielen des 19. Jahrhunderts die literarische Stilisierung des Reiseziels Rom zum mythischen Erkenntnisort.
Der letzte Abschnitt führt zwei besonders disparate Beiträge zusammen, welche die Verbindung von Reisen zu Repräsentation und Medienrevolutionen herstellen. Lukasz Wierzbicki zeichnet sehr quellennah, aber ohne erkennbare konzeptionelle Einbettung, ein Porträt des polnischen Journalisten und Abenteurers Kazimierz Nowak, der in den 1930er Jahren für polnische Zeitungen von Afrikadurchquerungen mit dem Fahrrad berichtete. Das Kapitel beschränkt sich auf ein Lob für die als heroisch und zugleich kultursensibel dargestellte Leistung des Reisenden, ohne auf den Aspekt der medialen (Selbst-)Inszenierung, wie zuvor durch Gaderer an Seumes Beispiel gut beleuchtet, näher einzugehen. Im Kontrast hierzu bedient sich Dean MacCannel Freud'scher Psychologie und der Konzepte des "Dings" von Durkheim und Heidegger, um sich dem Tourismus des digitalen Zeitalters zu nähern. "Das touristische Ding" besteht demnach einerseits in Reise- und digitalen Dokumentationspraktiken, andererseits aber eben auch in den besuchten Attraktionen selbst, die im Akt der Besichtigung eine symbolische Verbindung zwischen virtuellen Bildern und materieller Begegnung schaffen. Die Kluft zwischen den beiden Kapiteln des letzten Abschnitts, in denen die Konzepte "agency" und "circulation of knowledge" allenfalls noch implizit behandelt werden, steht beispielhaft für die Herausforderungen einer interdisziplinären Reiseforschung. Wie können so unterschiedlich ausgerichtete Ansätze zu einem echten Austausch finden? Das Phänomen "Reisen" ist konzeptionell zu vage, um allein als gemeinsamer Nenner zu fungieren.
Das breite Panorama des Bandes lässt zwei Entwicklungen in der transdisziplinären Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie erkennen: Erstens wenden sich viele Beiträge von der Vorstellung ab, den mobilen Reisenden stünden lokal gebundene "Bereiste" gegenüber.[1] Die Umkehrung des kolonialen Blicks durch die Frage, wie außerhalb Europas Wissen über die Welt gewonnen wurde, hat hier besondere Bedeutung. Zweitens illustrieren mehrere Kapitel, welche Einsichten sich aus einer Abkehr von der pauschalen Verurteilung europäischer Reisetexte als kolonialistisch gewinnen lassen. Auch europäische Reisende der kolonialen Ära fanden sich immer wieder in der prekären Position kultureller Mittler. Dies darf bei aller gebotenen Kritik am ausbeuterischen Charakter des Kolonialismus nicht außer Acht gelassen werden.
Die Beiträge des Bandes bilden insgesamt sehr gut die Vielfalt der Reiseforschung und die Herausforderungen ab, die sich aus interdisziplinären Dialogen zu diesem Feld des Kulturkontakts ergeben. Die Herausgeberinnen haben aus dem 2017 ausgelaufenen Graduiertenkolleg heraus eine Kollektion zusammengestellt, die - gerade auch aufgrund von Spannungen zwischen verschiedenen Ansätzen - dazu anregt, weitere interdisziplinäre Explorationen des Themas Reisen vorzunehmen.
Anmerkung:
[1] Vgl. zur aktiven Rolle von Vermittlern in der Exploration Felix Driver: Intermediaries and the archive of exploration, in: Shino Konishi, Maria Nugent, Tiffany Shellam (ed.): Indigenous intermediaries. New perspectives on exploration archives, Acton 2015, 11-29.
Anke Fischer-Kattner