C. Bettina Schmidt: Jugendkriminalität und Gesellschaftskrisen. Umbrüche, Denkmodelle und Lösungsstrategien im Frankreich der Dritten Republik (1900-1914) (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; 182), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 589 S., 68 Abb., 107 Graf., ISBN 978-3-515-08706-3, 76,00
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Karl Härter / Gebhard Sälter / Eva Wiebel (Hgg.): Repräsentation von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2010
Joachim Eibach: Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003
Ralf Brachtendorf: Konflikte, Devianz, Kriminalität. Justiznutzung und Strafpraxis in Kurtrier im 18. Jahrhundert am Beispiel des Amts Cochem, Marburg: Tectum 2003
An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entdeckte Frankreich sein Jugendkriminalproblem. Es verdichtet sich im Phänomen der "apachen". Der Begriff "apachen" war keine strafrechtlich handhabbare Größe, sondern ein diffuser Sammelbegriff für jugendliche "Streuner" aus den Unterschichten der wachsenden Großstädte, zu deren vermeintlich charakteristischen Aktionsfeldern "Raubmord, Körperverletzungen und Diebstähle aller Art sowie Zuhälterei" zählten (542).
In ihrer Untersuchung konzentriert sich Bettina Schmidt auf die Jahre 1900 bis 1914 als den Zeitraum, in dem "apachen" ihre Zeitgenossen in höchstem Maße beunruhigten. Die erste Dekade des 20. Jahrhunderts ist darüber hinaus die Zeitspanne, in der sich eine mediale Kultur herausbildete, die Masseninformation und Massenverunsicherung erst ermöglichte, in der sich Spezialwissenschaften etablierten, die für die Erklärung von Jugendkriminalität zuständig wurden, und in der nicht zuletzt die Reaktionsansätze auftauchten, die seither den Umgang mit Jugendkriminalität bestimmen.
Die Studie von Bettina Schmidt ordnet sich ein in das seit den 1990er-Jahren sukzessiv wachsende Spektrum von Forschungsarbeiten zur Geschichte der Jugendkriminalität im 19. und 20. Jahrhundert. Ihr kommt das besondere Verdienst zu, die in der deutschen Forschung vorherrschende Konzentration auf den deutschen Sprachraum aufzubrechen und den Blick auf das Nachbarland Frankreich zu richten.
Bettina Schmidt untersucht das Thema Jugendkriminalität und speziell das Phänomen "apachen" mit einem Verfahren, das sie als sozial- und kulturgeschichtlich eingebettete Diskursanalyse bezeichnet (vgl. 54).
Im ersten Teil der Studie werden die zeitgenössischen Diskurse über "apachen" in den Massenmedien untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass Inhalt, Form und Umfang der medialen Präsentation des Themas im Untersuchungszeitraum beträchtlichen Schwankungen unterlagen. Die Darstellung wandelte sich "von der potentiell krimogenen Heroisierung von 'apaches' 1902 bis zur Panik schürenden Verteufelung 1910" (542). Bei aller Eigendynamik medialer Präsentation ist gleichwohl die Rolle der so genannten "Experten" wie Praktiker aus Polizei und Justiz, aber auch Wissenschaftler und Politiker nicht zu unterschätzen, auf deren Einschätzungen und Analysen sich die Massenpresse im gesamten Untersuchungszeitraum stützte und die ihrerseits die Presse nutzten, um ihre Deutungsmacht zu stärken und den eigenen Expertenstatus zur Geltung zu bringen.
Der zweite Teil der Arbeit behandelt die wichtigsten zeitgenössischen Analyseansätze, die aber weit mehr und anderes transportierten als Erklärungen für individuelles Fehlverhalten jugendlicher Delinquenten. Mal mussten "apachen" als lebender Beweis für die vermeintliche gesellschaftliche Entartung oder für ein anomisches Abgleiten der Gesamtgesellschaft herhalten. Dann wieder galten "apachen" als Indiz für die fehlende moralische Erziehung an den Schulen, womit das öffentliche Schulwesen der Republik auf den Prüfstand gestellt war. An diesen und anderen Beispielen wird herausgearbeitet, wie das "apachen"-Thema instrumentalisiert wurde, um andere Diskurse von der Hinterbühne auf die Vorderbühne zu bringen und "wie die Spezialistendebatten nicht demystifizierend wirkten, sondern wie sie im Gegenteil zusammen mit politisch-polemischen Instrumentalisierungen Panik schürten" (63).
Auf der Basis von Gerichtsakten und autobiografischen Texten unternimmt die Autorin im dritten Hauptteil den Versuch, der Lebenswelt von "apachen" und dem "subjektiven Sinn" von "apacherie" auf die Spur zu kommen. Mag man auch über den Sinn der stark typisierenden Darstellung gerade in diesem Kapitel streiten, so versteht es die Autorin gleichwohl, ein dichtes Bild der Lebens- und Handlungsweise dieser Jugendlichen zu entwerfen. Wie in vergleichbaren Studien, die sich mit den Praktiken devianten Verhaltens von Jugendlichen aus den Unterschichten befassen, verweist auch Bettina Schmidt auf die enge Verflechtung von Alltagspraxis und devianten Handlungen. Quartiersorientierte Bandenbildung, gemeinsam begangene Diebstähle und Raubzüge waren Bestandteile der Straßensozialisation dieser Jugendlichen - sie waren nicht selten gleichzeitig Mutprobe, Nervenkitzel und Beitrag zum Überleben der Familien. Auch auf den Ausflügen ins "mondäne" Leben, bei Kneipenbesuchen, die nicht selten mit Schlägereien endeten, war es ein schmaler Grad zwischen lautstarken Vergnügungen und Gewaltdelikten. Die Logik des Handelns war in der Lebenswelt der "apachen" eine gänzlich andere als aufseiten der sozialen Kontrolleure. Als Unterschichtsangehörige bewegten sie sich in einem Umfeld, "in dem rechtswidrige Problemlösungen und gewaltsame Konfliktaustragung alltäglich waren und in gewissem Umfang für 'normal' gehalten wurden" (283). Insofern umfasste der Lebensstil der "apachen" zwar zahlreiche Elemente, "die die alltägliche Sicherheit und Ordnung im Vorkriegsfrankreich störten" (366). Der von Zeitgenossen "befürchtete subversive Großangriff" lag hingegen "jenseits ihrer Möglichkeiten" und war im Übrigen der Handlungslogik der "apachen" "gänzlich fremd" (ebd.).
Im vierten Teil der Arbeit stehen die gegen Jugendkriminalität und speziell gegen "apachen" propagierten und ergriffenen Maßnahmen im Mittelpunkt. In die Diskussion geriet unter anderem der Strafvollzug, in dem ein Großteil der verurteilten "apachen" landete. War er eine "Dressuranstalt" oder gar eine "Verbrecherakademie"? Auch andere "Sozialverteidigungsmaßnahmen" wurden auf den Prüfstand gestellt: es wurde über Sinn und Unsinn, Kosten und Nutzen der Todes- und der Prügelstrafe diskutiert, über konfessionelle und staatliche Zwangserziehung, über Deportationsstrafen - das gesamte Arsenal der Verbrechensbekämpfung wurde im Fahrwasser des "apachen"-Diskurses unter die Lupe genommen. Aber auch die staatlichen Strafverfolgungsbehörden, allen voran die Polizei und ihre Maßnahmen, gerieten ins Rampenlicht öffentlicher Kritik.
Die "apachen-Furcht", so resümiert die Autorin, hätte "schwerlich das skizzierte Ausmaß erreicht, wenn nicht reichhaltige Krisendiskurse und aufstrebende Spezialisten bereitgestanden hätten, wenn die 1900er-Jahre konfliktärmer verlaufen wären und wenn die Strafverfolgungsinstitutionen verlässlich funktioniert hätten" (545 f.).
Mit der Studie von Bettina Schmidt liegt eine breit angelegte, überzeugend argumentierende Untersuchung über den Umgang mit Jugendkriminalität in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor, die dabei auch neue Schlaglichter auf die krisengeschüttelte III. Republik wirft. Anschaulich, detailreich und quellengesättigt werden die unterschiedlichen Ebenen des Themas herausgearbeitet und gezeigt, wie die sich in medialen, wissenschaftlichen und politischen Diskursen herausbildenden Analysemuster des "apachen"-Phänomens miteinander konkurrierten und welche entscheidende Rolle die seinerzeit prosperierende Massenpresse bei der Verfestigung und Verbreitung stereotyper Vorstellungen über die jugendlichen "apachen" einnahm. Auch damals beruhten Kriminalitätsvorstellungen "größtenteils auf medialen Konstruktionen" (50).
Streiten kann man allerdings über die Zweisprachigkeit der Studie. Während der Haupttext in deutscher Sprache abgefasst ist, bleiben die Zitate aus den Quellen - und diese sind zahlreich - ohne Übersetzung in französischer Sprache. Dies mag den französisch sprechenden Leser freuen. Wer des Französischen nicht mächtig ist, dem werden viele Pointen vorenthalten und der kann auch die Plausibilität der Quelleninterpretation nicht nachprüfen.
Petra Götte