Karl Härter / Gebhard Sälter / Eva Wiebel (Hgg.): Repräsentation von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (= Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2010, VIII + 636 S., ISBN 978-3-465-04089-7, EUR 74,00
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Kriminalität und Medien bilden ein spannungsreiches Paar. Crime sells, nicht nur im Feld der kommerziellen Anbieter - das beweist jeder Blick ins aktuelle Fernsehprogramm. In Kontakt mit Mord, Raub und Taschendiebstahl kommen die meisten Menschen überhaupt nur durch Presse, TV oder Internet. Seit dem Ende der frühneuzeitlichen Strafspektakel und dem Rückzug des Strafens aus der Öffentlichkeit ist auch der Strafvollzug in unserer Wahrnehmung nahezu ausschließlich medial vermittelt präsent. Für die Ermittlungsarbeit der Polizei gilt dies ohnehin. Bestenfalls die Tätigkeit der Gerichte macht noch eine Ausnahme (wenn auch nur eine kleine: Die Leserschaft von Gerichtsreportagen dürfte bei weitem größer sein als die Zahl derjenigen, die als Zuschauer einer öffentlichen Gerichtsverhandlung beiwohnen). Kriminalität, Recht und Strafjustiz sind in der modernen Welt also zu großen Teilen Medienereignisse, das heißt sie werden von medial produzierten bildlichen und sprachlichen Botschaften bestimmt. Diese Botschaften wiederum reflektieren kollektive Vorstellungen von öffentlicher Sicherheit und bilden gesellschaftsübergreifende Verständigungen über Normen und ihre Geltung ab beziehungsweise sind selbst Teil von ihnen.
Diese Vermittlung von Verbrechen und Strafen durch massenhaft verbreitete Bilder und Texte lässt sich jedoch nicht erst der modernen Mediengesellschaft zurechnen, vielmehr hat sie eine Geschichte, die bis in die Zeit der Erfindung des Buchdrucks zurückreicht, allerdings erst langsam in den Fokus der Forschung rückt. Der vorliegende Sammelband, der auf eine 2005 an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart stattgefundene Tagung der Arbeitskreise "Historische Kriminalitätsforschung" und "Policey / Polizei im vormodernen Europa" zurückgeht, versucht mit seiner epochenübergreifenden Perspektive deshalb, eine wichtige Leerstelle zu füllen - auch wenn die Herausgeberinnen und Herausgeber vorsorglich darauf hinweisen, dass aufgrund einer disparaten Forschungslage "lediglich erste exemplarische Schneisen" ins Dickicht des Themas geschlagen werden können (2). Nur konsequent ist die interdisziplinäre Ausrichtung des Bandes, der Texte aus Geschichts-, Rechts-, Literatur- und Medienwissenschaft versammelt (schmerzlich vermisst werden dabei kunsthistorische Wortmeldungen).
Die insgesamt 17 Beiträge nähern sich den Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit folglich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln: Mehrere Autorinnen und Autoren untersuchen die Konstruktion und Funktion wirkmächtiger Feindbilder (Rita Voltmer zu Hexen, Jan Willem Huntebrinker zur soldatischen Kriminalität, Ulrike Ludwig zu Wilderern, Beate Althammer zu Vagabunden, Lisa Kathrin Sander zu "gefährlichen Gewohnheitsverbrechern", Sven Korzilius zu "Asozialen"), wobei sie nicht nur eine in der historischen Kriminalitätsforschung verbreitete Analyse von Etikettierungsprozessen fortführen, sondern sich auch mit jeweils spezifischen Fragestellungen beschäftigen (etwa zur Funktion des Hexenbilds in den konfessionellen Auseinandersetzungen, zu den Widersprüchen zwischen Kriminalisierungsprozess und Rechtssprechung oder zum Zusammenspiel von politisch definierten Täterbildern und aus der Bevölkerung heraus artikuliertem Verfolgungsverlangen). Eine zweite große Gruppe von Beiträgen widmet sich konkreten Medientypen (Karl Härter zu Darstellungen von Verbrechen und Strafe auf illustrierten Einblattdrucken der Frühen Neuzeit, Gerhard Ammerer und Friedrich Adomeit zu Hinrichtungsdarstellungen auf "Armesünderblättern", Holger Dainat zur literarischen Konstruktion krimineller Karrieren in der für das 18. Jahrhundert typischen Textsorte "Totengespräche", Kathrin Kompisch anhand des Falles Haarmann zu Gewaltdarstellungen in der Massenpresse der Weimarer Republik). Hier werden typische, nicht selten aber auch widersprüchliche Züge von medialen Verbrechens- und Strafdarstellungen herausgearbeitet, die in ihren Bezügen beständig zwischen Kommerz, Moral und staatlichen Ordnungsvorstellungen schwankten. Für eine dritte Gruppe stehen stärker bestimmte Topoi von Kriminalitäts- und Sicherheitsdiskursen im Mittelpunkt (Joachim Lindner zum "Criminal-Bild" der "versagenden Väter" in der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Herbert Reinke zur "Wohlstandskriminalität" in der frühen Bundesrepublik, Matthias Kötter zum Begriff der "Sicherheit" in den Debatten um die "Sicherungsverwahrung"). Schließlich beschäftigen sich einige Autorinnen und Autoren mit ausgewählten text- oder bildproduzierenden Praktiken (Gerhard Fritz zur Sicherheitspolitik und ihren Akteuren in Südwestdeutschland im 18. Jahrhundert, Jakob Julius Nolte zur Denunziation in der Zeit der Demagogenverfolgung, Jens Jäger zu bildlichen Darstellungen von Polizei und Verbrechern in Kaiserreich und Weimarer Republik, Gesa Helms zum Stadtmarketing und seinen kriminalpolitischen Folgen im heutigen Großbritannien).
In der Gesamtschau entsteht dabei ein zwiespältiger Eindruck. Überzeugend aufzeigen können zahlreiche der zum Teil sehr langen Artikel (bis zu 80 Seiten!) starke Kontinuitäten in den diskursiven Konstruktionen bestimmter Negativstereotypen (beim "Vagabunden" von der Frühen Neuzeit bis ins frühe 20. Jahrhundert, beim "Asozialen" vom Kaiserreich bis in die DDR) bzw. einen epochenübergreifenden Rückgriff auf Topoi wie der "Gefährlichkeit" zur Legitimierung repressiver kriminalpolitischer Maßnahmen, die (wie aktuell im Fall der "Sicherungsverwahrung") bis zur Aushebelung rechtsstaatlicher Prinzipien reichen. Auch machen viele Beiträge immer wieder deutlich, dass einfache Ursache-Wirkungs-Schemata der Kommunikationsforschung unzureichend sind, um die komplexen Funktionsmechanismen einer medialen Vermittlung von Verbrechen und Strafe zu verstehen (wobei die Produktionsseite - Obrigkeiten, Experten, Medienproduzenten - in vielen Details ausgeleuchtet wird, während die Rezeptionsseite - das Publikum - quellenbedingt weitgehend im Dunklen bleibt).
Gleichzeitig lässt sich jedoch nicht übersehen, dass die Mehrheit der Beiträge des Bandes thematisch und methodisch recht unvermittelt nebeneinander steht. Als problematisch erweist sich hier, dass die Herausgeberinnen und Herausgeber auf jede Diskussion des Begriffes "Repräsentation" verzichtet haben. Von Roger Chartier umschrieben wurden damit kollektive Vorstellungen, die Wahrnehmungen und Klassifizierungen der sozialen Welt transportieren und dabei Kämpfe um Macht- und Weltdeutungsmonopole widerspiegeln, anders ausgedrückt: kulturelle Codierungen, mit denen man "in das Geflecht der menschlichen Beziehungen und Spannungen" eindringen kann. [1] Mit seinem auf Bilder, Vorstellungen und Diskurse abzielenden Ansatz geht der Band weit über dieses Programm hinaus, bleibt gleichzeitig aber auch dahinter zurück und büßt an theoretischer Präzision ein. Etwas weniger (z.B. eine Konzentration auf die vielfach klug analysierten sozialen Feindbilder im Sicherheitsdiskurs, denen man weitere typologische Figuren wie "Räuber", "Piraten", "Prostituierte", "Anarchisten" oder "Terroristen" hätte hinzufügen können) wäre hier wahrscheinlich mehr gewesen.
Anmerkung:
[1] Roger Chartier: Die Welt als Repräsentation (1988), in: Matthias Middell / Steffen Sammler (Hgg.): Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der "Annales" in ihren Texten 1929-1992. Leipzig 1994, 320-347, hier 326.
Falk Bretschneider