Ute Frevert (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 430 S., 3 Abb., ISBN 978-3-525-36270-9, EUR 22,90
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Was hält das Soziale zusammen? Diese Frage historisch auszuloten, ist Anliegen eines Sammelbandes, der aus einer Tagung über "Vertrauen als historische Kategorie" hervorgegangen ist, die im Dezember 2001 im Bielefelder "Zentrum für interdisziplinäre Forschung" (ZiF) stattgefunden hat. Bei dem Untersuchungsgegenstand handelt es sich um ein soziales Grundphänomen, zu dem es in der Geschichtswissenschaft - anders als in der Soziologie, Psychologie oder Pädagogik - noch vergleichsweise wenige Untersuchungen gibt. Das theoretische Rüstzeug der Beiträge stammt denn auch aus den sozialwissenschaftlichen Nachbarfächern, insbesondere aus einer 1968 publizierten und seitdem immer wieder neu aufgelegten Schrift des verstorbenen Soziologen Niklas Luhmann. [1] Wie sich dem Untertitel entnehmen lässt, nimmt der Band "historische Annäherungen" vor, die ganz unterschiedlichen Pfaden folgen. Chronologisch spannen die Beiträge einen Bogen vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Vorgeschaltet ist den insgesamt zwölf Untersuchungen eine höchst lesenswerte Einführung in die historischen und soziologischen Dimensionen des thematischen Leitbegriffs aus der Feder der Herausgeberin.
Wie fruchtbar und auch heikel eine solche Spurensuche ist, verdeutlicht gleich der Eingangsbeitrag von Dorothea Weltecke, die ihre methodologischen Überlegungen an Beispielen aus dem Mittelalter veranschaulicht. Nicht nur weil das deutsche Wort "Vertrauen" in mittelalterlichen Quellen nicht vorkommt, ist der Begriff wissenschaftlich nur schwer zu konzeptualisieren. Er ist zudem semantisch "flüssig", verweist er doch auf ein weites, historisch wandelbares Spektrum von Phänomenen, die für den Einzelfall präzise zu erfassen sind. Folgerichtig widerspricht die Autorin der häufig vertretenen Annahme einer quasi überzeitlichen Existenz von Vertrauen in der Menschheitsgeschichte. Ebenso verbietet sich der im Denkansatz Luhmanns angelegte Umkehrschluss von der Vertrauenskrise der Moderne auf die Nestwärme traditionaler Gesellschaften. Der Eintritt in das Mittelalter, so Weltecke, kam vielmehr einer von Gewalt begleiteten Vertrauenskrise gleich, verursacht durch die Erosion der Institutionen des untergegangenen Römischen Reichs. List und Betrug blieben deshalb in vielen Bereichen menschlichen Handelns bis ins späte Mittelalter "eine allgemein anerkannte Option" (70).
Dass dieser Befund - cum grano salis - auch für spätere Zeiten gilt, zeigt Stefan Gorißen in seiner mit den Begriffswerkzeugen der Neuen Institutionenökonomik erstellten Studie über den vorindustriellen Fernhandel. Noch im 18. Jahrhundert konnten Handelsbeziehungen selbst dann von einem offensichtlich grundsätzlichen Mangel an Vertrauen geprägt sein, wenn zwischen den Handelspartnern freundschaftliche oder gar verwandtschaftliche Beziehungen bestanden. Die sich dem Leser sogleich aufdrängende Frage, ob sich das bis heute wirklich geändert hat, verneint der Autor am Ende seines Beitrags: Nicht die fehlende Vertrauensbereitschaft der Akteure, sondern unzureichende Kontrollmöglichkeiten und daraus resultierende Informationsengpässe waren die entscheidenden Faktoren, die das Misstrauen zwischen den Kaufleuten schürten. In umgekehrter Analogie dazu beschreibt Franz Mauelshagen die von Freundschafts- und Tugendsemantiken umhüllten Netzwerke der frühneuzeitlichen Gelehrtenwelt treffend als "soziales Netz unter dem Drahtseilakt vertrauensvollen Handelns" (151). Vertrauen und Zwang waren aufeinander bezogen, da die Anerkennung der mit Freundschaft verbundenen Normen die Möglichkeit einschloss, moralischen Druck auszuüben oder selbst einem solchen Druck ausgesetzt zu sein.
Einen herausragenden Stellenwert nahm die Kategorie des Vertrauens seit dem Siegeszug der Aufklärung in der Erziehungsbewegung ein. Zum eigentlichen Hort des Vertrauens erklärten die Pädagogen des 19. Jahrhunderts die Familie, wo die Sprösslinge, wie Erik H. Erikson später formulieren sollte, im Idealfall das "Urvertrauen" erwarben. Gunilla-Friederike Budde weist aber auch nach, dass das Gegenteil eintreten konnte, wenn sich etwa die Familie als Vertrauensfalle erwies, in der bestenfalls das Urmisstrauen gegenüber der Außenwelt erlernt wurde. Mit der Aufwertung der Familie verband sich - zumal im deutschen Bürgertum - ein wachsendes Misstrauen der Eltern gegenüber familienfremden Erziehungsinstitutionen wie Kindergarten und Schule. Hier wird einmal mehr die Ambivalenz des Vertrauensparadigmas offenbar: Wer von Vertrauen spricht, hat das Gegenteil stets im Hinterkopf. Besonders augenfällig wird diese Janusköpfigkeit in den physiognomischen Diskursen des beginnenden 20. Jahrhunderts, in denen das "Gesicht als Bürgschaft" (Claudia Schmölders) fungierte und die Dichotomie aus Vertrauen und Misstrauen in einen rassistischen Deutungsrahmen rückte.
Die Zeugnisse, die Bettina Hinzer in ihrem Beitrag über die Wahrnehmung der Großstadt im Kaiserreich präsentiert, bestätigen auf den ersten Blick die These, dass die Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften mit einem wachsenden Vertrauensbedarf der Betroffenen einhergeht. "Die Großstädte töten [...] das Vertrauen der Nachbarn und Arbeitskollegen untereinander", gab etwa der Direktor der Berliner Stadtmission 1916 in einer Rede zu bedenken (191). Bei genauerem Hinsehen erweist sich allerdings, dass hier ein Vertreter des modernisierungsskeptischen Establishments zu Wort kam, dessen Werben um das Vertrauen junger Migranten nicht zuletzt die Sorge um jene Institutionen zugrunde lag, die vom Wandel der Zeiten besonders betroffen zu sein schienen: die Kirche und die bürgerliche Gesellschaft. Als am Ende des Ersten Weltkriegs das Kaiserreich selbst in eine Legitimationskrise geriet, setzte unter den politischen Eliten eine Vertrauensdebatte ein, die Anne Schmidt im Blick auf die Problemwahrnehmung und Lösungsversuche der Akteure analysiert. Während die kaiserliche Propaganda den Glaubwürdigkeitsverlust des Staates nicht aufzufangen vermochte, gelang es dem Dritten Reich bis zuletzt, der Volksgemeinschaft das Vertrauen in die nationalsozialistischen Institutionen und den Führer einzuimpfen. Dieser totalitäre Loyalitätsanspruch führte zu einer Denunziationspraxis, die im Zweifelsfall auch vor dem Kameradschaftsgebot nicht Halt machte, wie Thomas Kühne am Schicksal des U-Boot-Kommandanten Oskar Kusch darlegt.
Die deutsche Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts liefert viele Beispiele dafür, welchen Belastungsproben das Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und Staat ausgesetzt sein kann. Dagmar Ellerbrock, die "Vertrauenskonjunkturen" entlang des deutschen Waffenrechts nachzeichnet, stellt der geläufigen These, die Moderne kranke an einem kontinuierlichen Vertrauensverlust, den Befund entgegen, dass in Zeiten politischer Transformation generell ein erhöhter Vertrauensbedarf besteht. Wie schwer es den totalitären (und ökonomisch erfolgslosen) Systemen im Ostblock fiel, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, zeigt Jan C. Behrends am Beispiel Polens, der DDR und der UdSSR. Zu keiner Zeit gelang es der staatlichen Propaganda, Anspruch und Wirklichkeit zur Deckung zu bringen. Das gilt zumal für die verordnete "Freundschaft" zur sowjetischen Brudermacht. Anders als der Freundschaftsdiskurs zwischen der DDR und der Sowjetunion war die von de Gaulle und Adenauer eingeläutete deutsch-französische Partnerschaft mehr als nur eine ideologische Kopfgeburt. Die deutlich vernehmbaren atmosphärischen Störungen zwischen den beiden Nachbarstaaten nach der deutschen Wiedervereinigung führen allerdings vor Augen, dass selbst diese Erfolgsgeschichte kein Selbstläufer ist, sondern permanenter "Vertrauensarbeit" bedarf.
Dass moderne Gesellschaften grundsätzlich anfälliger sind für Vertrauenskrisen als traditionale, lässt sich nach der Lektüre der Beiträge nicht behaupten, wohl aber, dass die heutigen Risikogesellschaften immensen Aufwand betreiben müssen, damit ein für die Moderne spezifisches Unbehagen, wie es beispielsweise die Atomenergie hervorruft, nicht zu einer Systemkrise umschlägt. Die Rahmenbedingungen dafür sind in liberalen Gesellschaften besser als in totalitären, denn nur "in einem offenen, demokratischen System waren freie Meinungsäußerungen des Misstrauens gegenüber den eingeschlagenen technologischen Entwicklungspfaden überhaupt möglich und konnten sich funktional tatsächlich als Regulativ bewähren" (418). Was Menschen unter Vertrauen verstehen, hängt freilich von den historischen und kulturellen Kontexten ab, in denen sie sich bewegen. Diese an sich triviale Erkenntnis erweist sich in der wissenschaftlichen Praxis als Herausforderung, da der Untersuchungsgegenstand steter semantischer Reflexion unterzogen werden muss, um ihn historisch angemessen verorten zu können: Das Verhältnis zwischen analytischer Kategorie und Quellenbegriff ist also immer wieder neu auszutarieren. Den Autoren ist das bewusst, auch wenn die semantischen Verästelungen der jeweiligen Epoche nicht in allen Beiträgen explizit herausgearbeitet werden. Der Sammelband demonstriert eindrucksvoll, wie mithilfe eines kulturalistischen Ansatzes die Makroebene der gesellschaftlichen Strukturen und die Mikroebene der Akteure miteinander verknüpft werden können. Woran ambitionierte Ansätze dieser Art so häufig scheitern, gelingt hier rundum: Theoretischer Anspruch, methodischer Aufwand und empirische Umsetzung stehen in einem angemessenen Verhältnis zueinander. Die thematische Bandbreite der Beiträge erweist sich dabei nicht als Bürde, sondern als Bereicherung.
Anmerkung:
[1] Niklas Luhmann: Vertrauen: ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 4. Aufl. Stuttgart 2000.
Nikolaus Buschmann