Ulrich Pfisterer / Valeska von Rosen (Hgg.): Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart: Reclam 2005, 208 S., 85 Farbabb., ISBN 978-3-15-010571-9, EUR 49,90
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Das Buch erstaunt zunächst durch seine Größe. Fast schon ein Folioformat, ist der von Valeska von Rosen und Ulrich Pfisterer im Reclam-Verlag herausgegebene Band ganz das Gegenteil dessen, was die Reihe der gelben Universalbibliothek zu einem nicht wegzudenkenden Markenzeichen des Verlages gemacht hat. Statt kleine (Text-)Bücher zu kleinen Preisen unters Volk zu bringen, versucht man das breite und käuferisch gekräftigte Publikum heute offenbar dadurch zu erreichen, dass man mit Bildern dem großen coffee-table-book Konkurrenz macht.
Der Aufbau des Buches folgt einem simplen Schema. Auf eine Einleitung von wenigen Seiten in Form eines Vorworts folgen 85 Selbstporträts von Künstlern. Dabei kommt jeweils auf der rechten Seite des aufgeschlagenen Buches eine ganzseitige Reproduktion des ausgewählten Werkes zu stehen, die auf der linken Seite von einem einseitigen, in zwei Spalten gesetzten Text begleitet wird, der die wichtigsten Informationen zu dem Bildnis bereithält und mit erläuternden Ausführungen paart. Auf eine thematische Gruppierung, wie sie etwa Sigmar Holstens Hamburger Ausstellungskatalog Das Bild des Künstlers von 1978 unternahm (in der jetzigen Publikation merkwürdigerweise nirgends angeführt), wird verzichtet. Der chronologische Bogen spannt sich vom Mailänder Goldaltar des Vvolvinus um 840 bis zu einem Gemälde Gerhard Richters aus dem Jahre 2000. Mit 85 Bildern ist der Fülle der Selbstporträts in der westlichen Kunstgeschichte seit dem frühen Mittelalter bis zur Gegenwart natürlich in keiner Weise beizukommen. Das Buch versucht daher, in seiner Auswahl repräsentativ zu sein und beschränkt sich auf jeweils ein Beispiel pro Künstler und fast durchgehend darauf, besonders berühmte Selbstporträts zu berücksichtigen. Mit neuen Entdeckungen oder Umwertungen des Kanons will man nicht aufwarten. Als einzige und eher zufällige Ausnahme darf das Selbstporträt der mexikanischen und in Europa völlig unbekannten Malerin Guadalupe Carpio von 1865 gelten.
Uneinheitlich ist die Berücksichtigung der verschiedenen Medien. Während die überwiegende Anzahl der Beispiele der Malerei zugehörig sind, hat man acht Werke der Skulptur, eine Goldschmiedearbeit (Vvolvinus) und eine Plakette (Alberti) berücksichtigt. Die Fotografie ist für das 20. Jahrhundert mit mehreren prominenten Beispielen vertreten. Dafür wurde aber so gut wie keine Grafik einbezogen und kaum Zeichnungen. Auf Caspar David Friedrich wollte man aber offenbar nicht verzichten, von dem eben nur gezeichnete Selbstporträts existieren. Daneben hätte man sich gut weitere gezeichnete Selbstbildnisse anderer Künstler vorstellen können, wovon es bekanntlich höchst faszinierende Beispiele gibt. Dies trifft aber gerade nicht auf die einzige weitere Zeichnung zu, die die Herausgeber in ihrem Band zugelassen haben: Adrian Pipers Self-Portrait Exaggerating My Negroid Features von 1981. Als eines der wenigen Frauenporträts, die in dem Buch Berücksichtigung fanden, repräsentiert es die subversiven künstlerischen Strategien dieser Künstlerin eher ungenügend, zumal es sich vor dem Hintergrund einer Geschichte des Selbstporträts um ein durchaus epigonales Werk handelt. Auch wenn Frida Kahlo heutzutage wegen allzu großer Popularisierung in kunsthistorischen Kreisen nicht mehr allzu beliebt ist, kommt man wohl kaum umhin, festzuhalten, dass es ihre Porträts waren, die auch für das Bildnis der Adrian Piper die Voraussetzung sind. Dass das Buch kein Bild der Kahlo reproduziert, erscheint spätestens jetzt als ein Manko. Was für die Zeichnung gilt, gilt auch für die Grafik: Hier wurde allein das Selbstbildnis Jan Lutmas aufgenommen.
Im Wesentlichen sind es also die Maler, die mit ihren Selbstdarstellungen in diesem Buche zum Zuge kommen. Auch ihre Auswahl lässt sich natürlich diskutieren. Henri Fantin-Latours Hommage à Delacroix hätte man vielleicht weglassen können, zumal der Typus des Gruppenselbstbildnisses mit Max Ernsts Au rendez-vous des amis von 1922 abgedeckt wird. Wäre nicht Hans von Marées 1863 entstandenes Doppelbildnis, das ihn selbst und Lenbach zeigt, die interessantere Wahl gewesen? Wie dann auch das Beispiel eines romantischen Freundschaftsbildnisses, wie es etwa von Philipp Otto Runge existiert, fehlt. Bei der notwendigen Beschränktheit der Auswahl wundert man sich, wieso Manet Berücksichtigung findet, der zwar Schöpfer unvergleichlich raffinierter Porträts war, vor denen aber eben gerade seine Selbstporträts zurücktreten, die nicht zu den Höhepunkten der Gattung gehören. Demgegenüber Gauguin zu opfern, erscheint unverständlich, gehört dieser doch einem Künstlertypus an, der mit seiner Kunst in besonderem Maße der Selbstdarstellung frönt und deren Exemplare gleichsam als notorische Selbstdarstellungskünstler eine besondere Gruppe in der Geschichte der europäischen Kunst ausbilden: Neben Gauguin, Van Gogh und Munch haben daran auch Egon Schiele und Oskar Kokoschka teil - die beide ebenfalls keine Berücksichtigung fanden. Zuvor vermisst man intensiv Menzel und Böcklin. Auch Paul Klee, Paula Modersohn-Becker, Max Slevogt, Ferdinand Hodler, Pierre Bonnard, allesamt Schöpfer höchst bedeutsamer Selbstbildnisse, sind nicht vertreten. Das sind Kanonfragen. Wo bleibt Liotard, warum nicht Boucher oder Hyacinthe Rigaud? Geht man noch weiter zurück fällt vor allem das Fehlen von Baccio Bandinelli auf, auch das von Jean Fouquet und Jan Steen. Die Auswahl der Bilder nach 1945 könnte Anlass zu endlosen Diskussionen geben, da hier die Möglichkeiten zur Auswahl so sprunghaft ansteigen, dass jede Entscheidung sogleich wie Willkür anmuten kann. Die Herausgeber haben dieses Problem getreu der repräsentativen Ausrichtung der Publikation mit der Wahl je einer Arbeit von Meret Oppenheim, Arnulf Rainer, Francis Bacon, Joseph Beuys, Andy Warhol und Gerhard Richter gut gelöst. Dass der unvermeidliche Jeff Wall einmal vermieden worden wäre, war nicht zu erwarten. Genauso wenig wie Cindy Sherman - Claude Cahun wäre die subtilere Lösung gewesen. Und Gilbert & George? Mais peu importe. Dafür ist Maurizio Cattelan mit seiner witzigen Arbeit Spermini aufs Beste platziert und Andreas Horlitz mit seinem Autoportrait DNA von 1998 ein dankbarer Fall für einschlägige Reflexionen zur Zukunft des Selbstbildnisses. Dass Richter das letzte Bild behält, nun, das ist nur nahe liegend, nicht mehr.
Der Klappentext verspricht, dass nicht nur die beiden namentlich genannten Herausgeber, sondern "alle Autoren [...] namhafte Porträtforscher" seien. Das trifft zu. Zumindest auf diejenigen, die als Porträtforscher bislang in Erscheinung getreten sind, naturgemäß weniger auf die, die weder namhafte noch ausgemachte Porträtforscher sind. Dafür vermisst man oftmals diejenigen Autoren, die für dies oder jenes Bild wegweisende Forschungen geleistet haben. So ist das Buch auch ein Beispiel dafür, dass Wissenschaft heute immer öfter als das Organisieren der eigenen peer-group verstanden wird.
Wofür stehen die Herausgeber und die mit ihnen verbundenen Autoren ein? Der Titel ist Programm. Die Zusammenstellung von 85 Selbstporträts soll exemplarisch vorführen, was für das Porträt im Allgemeinen und für das Selbstporträt des Künstlers im Besonderen gilt: Dass jede Darstellung eines Künstlers eine Konstruktion seiner Rolle ist, ein ästhetischer Entwurf, der auf Wirkung zielt. Der Betrachter ist in diesem Arrangement eine kalkulierte Größe, die es durch den konkreten Betrachter je neu zu besetzen gilt. Dass die Prämissen der Betrachterposition historischen Veränderungen unterworfen ist, bedeutet zunächst eine Veränderung der Funktion (oder Funktionen), die ein Bildnis ursprünglich hatte. Es bedeutet aber auch, dass bei der Betrachtung des Bildnisses eine naivische Betrachtungsweise durch eine sentimentalische abgelöst zu werden vermag, deren durchschauende Einsicht in die Reflexivität des Selbstbildnisses nicht notwendigerweise autoreflexiv werden muss. Das ist für viele der hier abgedruckten Interpretationen der Fall. So geistreich, ja über-geistreich hier manches Bildnis seinen Interpreten findet, so wenig erfährt man in diesem Buch über die Relevanz der Frage nach dem Künstler-Ich. Am ehesten scheint man den Narzissmus des modernen Künstlers als anthropologischen Grundtatbestand hinnehmen zu wollen, vor der sich alle weitere Auseinandersetzung damit, warum die westliche Kunst und Kunstgeschichte dem Kult des außergewöhnlichen Individuums so unverhohlen anhängt, erledigt. Zwar wird der Künstlerkult des 19. und 20. Jahrhunderts thematisiert, aber nicht kritisch reflektiert. So schätzenswert, so intelligent, so wichtig die von den Herausgebern und ihren Autoren vorgetragenen Einsichten zum Selbstporträt sind - man würde sich weniger Glasperlenspielerei und mehr politisches Bewusstsein wünschen. Das Fazit kann sich sehen lassen, denn man findet sich bei der vorliegenden Publikation mit einem grundsoliden und unverwüstlichen Rezept konfrontiert - Chronologie, werkorientierte Bildinterpretationen - das alles in allem aufgeht. Freilich liegt es auch in der Natur dieses Konzepts, dass eine theoretische Durchdringung der Geschichte des Künstlerselbstporträts nur in geringfügigen Ansätzen aufscheint und stattdessen sich Einzelinterpretationen aneinander reihen. Ein Lese-, ein Bilderbuch.
Gregor Wedekind