Jens-Uwe Krause / Christian Witschel (Hgg.): Die Stadt in der Spätantike - Niedergang oder Wandel? Akten des internationalen Kolloquiums in München am 30. und 31. Mai 2003 (= Historia. Einzelschriften; Heft 190), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 492 S., ISBN 978-3-515-08810-7, EUR 68,00
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Die Erforschung der Spätantike gehört zu den wissenschaftlichen Schwerpunkten der Herausgeber und Veranstalter des Kolloquiums, deren gemeinsame Interessen zur Einrichtung eines Zentrums für spätantike Forschung führte. In diesem Rahmen wurde das Kolloquium "Die Stadt in der Spätantike - Niedergang oder Wandel?" am Historischen Seminar der Universität München ausgerichtet.
Der 492 Seiten starke Band enthält neben Vorwort, Ausblick, Sachregister und geografischem Register 16 Aufsätze (in Deutsch, Italienisch, Französisch, Englisch), die in drei Blöcken zusammengefasst wurden: zwei topografischen mit Unterteilung in Nord-Nordwestprovinzen und Italien sowie in Ost- und Südprovinzen (wobei Nordafrika irritierend in beiden auftaucht) und einen dritten zu sozio- und kirchenpolitischen Aspekten.
Der Band enthält die schriftliche Fassung fast aller Vortragenden des Kolloquiums. Die Beiträge zweier Referenten sind (kommentarlos) nicht vertreten: Clive Foss ("Cities of Late Antique Asia Minor and Syria: Parallel Developments") und Luke Lavan ("The Other Late Antique City: Social and Political Topography in the 4th-6th C."). Letzterer Wegfall ist in Hinblick auf die von der gängigen deutschen Spätantike-Forschung abweichenden Thesen und Methoden Lavans umso bedauerlicher, da gerade in diesen Gegensätzen die spannungsreiche Diskussion um die Methode der Erforschung der Spätantike deutlich wird. [1] Für die entfallenden Aufsätze kamen der Beitrag von Werner Tietz ("Die lykischen Städte in der Spätantike") und der wohl auch ursprünglich als Redebeitrag vorgesehene Beitrag von Avshalom Laniado ("Le christianisme et l'évolution des institutions municipales du Bas-Empire: l'exemple du defensor civitatis") hinzu.
Die Themen umfassen sowohl topografische Detailstudien zu Stadtentwicklung und -struktur und zur Entwicklung auf dem Lande als auch zur munizipalen und klerikalen Verwaltungsstruktur und behandeln mit Gallien, Spanien, Italien, Kleinasien, Syrien, Palästina und Nordafrika verschiedenste Kulturräume der antiken Welt.
Den roten Faden durch die Beiträge bildet unter anderem die Diskussion um "The Decline and Fall of the Roman City" von Wolfgang Liebeschuetz. [2] Die Autoren werten die Ergebnisse ihrer Untersuchungen auch in Hinblick auf den durch Liebeschuetz postulierten Niedergang der spätrömischen Stadtkultur aus, sodass die Einzelthemen zu Fallstudien werden und deutlich die heterogene Entwicklung der verschiedenen Bereiche des spätantiken Städtewesens spiegeln.
Im Folgenden wird auf vier Beiträge näher eingegangen: Claude Lepelley ist erneut mit einem Aufsatz zum spätantiken Nordafrika vertreten ("La cité africaine tardive, de l'apogée du IVe siècle à l'effondrement du VIIe siècle", 13-31). Er grenzt auf der Basis neuer Inschriftenfunde das 4. und 5. Jahrhundert und deren eher stabile Stadtstruktur, wie sie sich auch im allerorts anzutreffenden Kirchenbau und den dafür vorauszusetzenden Ressourcen spiegelt, von den Entwicklungen des 6. und 7. Jahrhunderts ab. Denn hier bezeugen Funde wie der Münzhort in Bararus und Befunde wie die Aufgabe vernachlässigter oder zerstörter öffentlicher Plätze und Straßen sowie die Zerstörung und der Verfall christlicher Bauten in Belalis Maior, Karthago, Sufetula und Caesarea Mauretania die Aufgabe der ehemaligen Stadtstruktur (nicht aber der Stadt an sich), die auf die Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzung mit einfallenden halbnomadischen Stämmen und wirtschaftlichen Rückgang durch die fehlende Anbindung an das sich nach Osten verlagernde byzantinische Imperium zurückzuführen sein könnten.
Federico Marazzi beschäftigt sich in "Cadavera urbium, nuove capitali e Roma aeterna: l'identità urbana in Italia fra crisi, rinascita e propaganda (secoli III-V)" (33-65) mit der Entwicklung italischer Städte ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. in Abhängigkeit von ihrer Lage und Nutzung: So haben die Lage an vielfrequentierten Hauptstraßen oder Küstenorten und die Nutzung als Bischofssitz oder kaiserliche Residenz sichtbar rege Bauaktivitäten und stärkere Erhaltungsbemühungen zur Folge (Ravenna, Rom, Mailand). Am Beispiel Aquileias zeigt sich die von Marazzi in seiner Einleitung selbst angesprochene Problematik der Befundinterpretation. Denn indem Marazzi von einer spätantiken Palastanlage und einer auf ein Forum konzentrierten Stadtanlage ausgeht, postuliert er nach deren Verfall einen wesentlich stärkeren Niedergang der Stadt, als er sich aus der Studie von Haug [3] ergibt. Diese kann eine bereits ab dem 4. Jahrhundert bestehende polyzentrische Stadtstruktur nachweisen, die in der Spätantike nach Aufgabe des Forums lediglich eine strukturelle Verschiebung zu einem durch den Kathedralenbau neu ausgebildeten multifunktionalen merkantil geprägten Zentrum hin zur Folge hat.
Der Beitrag von Werner Tietz "Die lykischen Städte in der Spätantike" (257-281), wird hier stellvertretend für den Block zu den Städten im Osten des Römischen Reiches besprochen. Die rege und erfolgreiche Beteiligung am Seehandel in griechischer und römischer Zeit prägte auch das Stadtbild der lykischen Küstenstädte mit den bekannten öffentlichen Bauten wie den Theatern, Gymnasien, Stoen und der Stadtmauer. Mit der sich ausbreitenden Christianisierung fungieren die städtischen Zentren meist als Bischofssitz, während sich auf dem Land die Umstrukturierung vom Einzelgehöft zu größeren Dörfern um eine Kirche beobachten lässt. Dass sich nur für den Kirchenbau wirkliche Neubauten fassen lassen, kann zum einen mit der Instandhaltung und Weiternutzung der bereits vorhandenen Profanbauten und zum anderen mit dem Forschungsstand zusammenhängen, wie die spätantiken Neubauten in Arif bei Arykanda bezeugen. Daneben entstehen in den Städten mehrräumige große Wohnhäuser; mit diesen verbunden ist die schwer nachvollziehbare Argumentation Tietz' gegen eine Oberschicht von Landeigentümern und zugunsten eines auf monetärer Basis beruhenden Handels trotz fehlender städtischer Münzfunde und der ab dem 3. Jahrhundert ausbleibenden Münzprägung der Städte. Wenn mit Pinara, Tyberissos, Patara, Limyra und verschiedenen Bergsiedlungen Beispiele für eine zurückgehende Bevölkerungsdichte in Küsten- wie Inlandsiedlungen vorliegen, könnten diese gerade in Hinblick auf die Neugründung von Arif bei Arykanda und die wachsenden Städte Sidyma, Aperlai, Timiussa, Kyaneai und Telmessos auf Zu- und Abwanderung sowie Konzentrationsprozesse hindeuten, wie sie auch auf dem Land zu fassen sind, und nicht, wie von Tietz angenommen, nur die Ausnahme von einer postulierten Regel gleich bleibender Bevölkerungsdichte innerhalb der Städte darstellen. Auch eine einheitliche Befundinterpretation wäre wünschenswert, damit nicht die Stadtmauern wie in der Diskussion um die Bevölkerungsdichte erst nicht als Hinweis auf die wirkliche Siedlungsgröße verstanden werden dürfen (270 f., Anm. 69), um wenig später als Indikatoren des aktuellen Stadtumfanges zu dienen (278). Ingesamt zeichnet sich das Bild prosperierender lykischer Städte und Dörfer bis ins 6. Jahrhundert ab; erst die große Pest von 541/42 bewirkt einen tiefen Einschnitt in die positive Entwicklung.
Christian Witschel ("Der epigraphic habit in der Spätantike: Das Beispiel der Provinz Venetia et Histra" 359-411) sucht nach den Gründen der ab dem 3. Jahrhundert deutlichen quantitativen und qualitativen Abnahme der Inschriften im öffentlichen Raum, besonders der Stifter- und Ehreninschriften. Anhand des Materials aus der Provinz Venetia und Histria (das er durch einen angehängten Katalog dem Leser mit an die Hand gibt) erarbeitet er eine im Zuge der Christianisierung fassbare Verschiebung des epigraphic habit in andere Räume (Nekropolen, Kirchen, Landstraßen) und Medien (Grabinschriften, Mosaike und Meilensteine). Er sieht darin, anders als Liebeschuetz, der die Veränderung als ein deutliches Zeichen des Auflösungsprozesses der politischen Stadtgemeinschaft wertet [4], eher einen Mentalitätswandel in Hinblick auf die der Repräsentation dienenden Mittel: Einfluss und Reichtum zeigten sich nicht nur durch die Errichtung oder Ausstattung der Kirchenbauten, also in einer der Stadt und dem eigenen Seelenheil zugute kommenden Zuwendung, sondern auch in reich ausgestatteten großen Privathäusern und stattlicher Gewandung.
Bedauerlich ist die dem Umfang des Bandes und dem Gewicht des guten Papiers unangemessene Bindung, die bereits nach einmaligem Durchlesen herausfallende Seiten zur Folge hat. Die einigen Aufsätzen gänzlich fehlenden Stadt- und Lagepläne erschweren die Einarbeitung in die jeweilige Analyse.
Insgesamt liegt mit dem Band eine Sammlung sorgfältiger Detailstudien vor, anhand derer die verschiedenen Veränderungen im antiken Städtewesen über einen pauschal postulierten Niedergang hinaus deutlich sichtbar werden. Nur auf diese Weise kann trotz der oft wenigen Befunde und Funde ein differenziertes Bild der Spätantike entstehen, in dem sich vielerorts die von Liebeschuetz aufgezeigten zwei spätantiken Entwicklungsphasen, aber auch deutlich von Lage und Funktion abhängige regionale Veränderungen abzeichnen.
Anmerkungen:
[1] L. Lavan: The Late Antique City: A Bibliographic Essay, in: F. K. Trombley / L. Lavan (Hg.): Recent Research in Late-Antique Urbanism (JRA Suppl. 42), Portsmouth 2001, 9-26, bes. 23f.; ders.: Late Antique Archaeology: An Introduction, in: L. Lavan / W. Bowden (Hg.): Theory and Practice in Late Antique Archaeology, Leiden / Boston / Tokyo 2003, I-XVI; s. hierzu die Rezension von G. Brands, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/11/7489.html.
[2] J. H. W. G. Liebeschuetz: The Decline and Fall of the Roman City, Oxford 2001.
[3] A. Haug: Die Stadt als Lebensraum. Eine kulturhistorische Analyse zum spätantiken Stadtleben in Norditalien, Rahden 2003, 86-106; s. hiezu die Rezension von Ute Verstegen, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/04/10420.html; vgl. M. Verzár-Bass: L'assetto urbano di Aquileia, in: M. Heinzelmann / J. Ortalli (Hg.): Abitare in città, Kolloquium Rom 1999, Wiesbaden 2003, 73-94; s. hierzu die Rezension von Manuel Flecker, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/11/7493.html
[4] J. H. W. G. Liebeschuetz, The Decline and Fall of the Roman City, Oxford 2001, 11-19.
Nadin Burkhardt