Karl Clausberg: Zwischen den Sternen: Lichtbildarchive. Was Einstein und Uexküll, Benjamin und das Kino der Astronomie des 19. Jahrhunderts verdanken. Felix Eberty: Die Gestirne und die Weltgeschichte. In deutsch/englischer Originalversion von 1846/47, Berlin: Akademie Verlag 2006, X + 270 S., ISBN 978-3-05-004043-1, EUR 49,80
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Populärwissenschaftliche Gedankenexperimente können in vielfältigen Zusammenhängen neue Perspektiven öffnen und auch als wichtige kulturhistorische und ideengeschichtliche Quellen dienen, wie Karl Clausberg eindrucksvoll aufzeigt. Der Verfasser geht darin der weit verzweigten Wirkungsgeschichte von Felix Ebertys kleiner Schrift "Die Gestirne und die Weltgeschichte. Gedanken über Raum, Zeit und Ewigkeit" nach, die in zwei Teilen 1846 und 1847 zunächst anonym erschien. Das inzwischen in Vergessenheit geraten Werk Ebertys - ein "Zufallsfund" wie Clausberg es nennt - fand im 19. Jahrhundert ein starkes Echo. Es wurde noch bis 1923 mehrmals neu aufgelegt und, ebenfalls anonym und ohne Kenntnis Ebertys, ins Englische übersetzt. Die deutsche Ausgabe von 1923 ist mit einer Einleitung von Albert Einstein versehen.
Clausberg möchte sein Buch als einen Beitrag zu einer umfassenden Bildwissenschaft verstanden wissen und er sieht in Ebertys Schrift eine Quelle ersten Ranges, die er hier als Nachdruck der deutschen und der englischen Ausgabe von 1846/1847 zugänglich macht. In seinem ausführlichen Kommentar erschließt Clausberg den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext von Ebertys Gedankenexperiment und verfolgt dann dessen Rezeption und Überlieferung bis ins 20. Jahrhundert.
Den Ausgangspunkt für Ebertys Überlegungen, der aus einer bürgerlichen, jüdischen Familie stammte und als Jurist eine Laufbahn im preußischen Staatsdienst einschlug, bildete ein naturwissenschaftlicher Durchbruch. 1837/38 bestätigte Friedrich Wilhelm Bessels Messung einer Fixsternparallaxe, dass die Entfernungen auch der allernächsten Sterne in handhabbaren Zahlengrößen eigentlich nur angegeben werden konnten, wenn man die Laufzeit des Lichts für diese Strecken als Grundeinheit voraussetzte. Daraus ergab sich die Konsequenz, dass der Blick in den Sternenhimmel immer ein Blick in die Vergangenheit ist. Ebertys Grundidee ist es nun, diesen Blick umzukehren: Wenn es möglich wäre, das Licht zu überholen, müsse ein Blick in die Vergangenheit der Erde möglich sein. Ein Beobachter in 300 Lichtjahren Entfernung könne, ausgerüstet mit einem entsprechend leistungsstarkem Teleskop, "Luther vor dem Reichstage zu Worms erblicken", ein noch weiter entfernter Beobachter "Jesus Christus auf Erden".
Der Weltraum enthalte ein nahezu vollständiges Archiv der Menschheitsgeschichte, alles, was sich - unter freiem Himmel - abgespielt hat, wäre als "Lichtbild" bewahrt. Eberty denkt diese Idee noch einen Schritt weiter, wenn er daraus auf die wechselseitige Abhängigkeit von Raum und Zeit schließt und die Möglichkeit ungeahnter Zeitraffungen und -dehnungen voraussieht: 4000 Jahre Erdenleben, abgebildet in einer Minute, ein Blitzstrahl gedehnt auf acht Minuten.
So innovativ Ebertys Gedankenexperiment war, so charakteristisch ist es für die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Alexander von Humboldt verwendete 1845 Begriffe aus der Seefahrt, um William Herschels Beobachtungen von astronomischen Nebeln als ein Vordringen zu entfernten Gestaden des Weltmeeres zu beschreiben, und der Mediziner Gotthilf Heinrich Schubert spekuliert gar über Fortbewegungsarten schneller als das Licht. Der Gedanke eines umfassenden Archivs war in Charles Babbages mechanistischer Auffassung vorgezeichnet, sämtliche Ereignisse seien in den von ihnen ausgelösten Atombewegungen noch erhalten. Babbages ethisch-kriminologische Spekulation, dass die Spur jedes Verbrechens auf diese Weise konserviert werde, findet sich bei Eberty wieder - übertragen auf die Bildarchive des Alls.
Die Vorstellung von der Raffung und Dehnung der Zeit fand zudem Eingang in biologische Überlegungen zu den "Zeitmaßen des Erlebens". Hatte schon Kant über die Lebensrhythmen von Bewohnern fremder Planeten spekuliert, so entwickelten im 19. Jahrhundert Karl Ernst von Baer und im 20. Jahrhundert Jakob von Uexküll den Gedanken verschiedener Zeitauffassungen unterschiedlicher Lebensformen weiter. Uexküll kann dabei schon auf die kinematografischen Metaphern der Zeitlupe und des Zeitraffers zurückgreifen; technische Errungenschaften, die in Ebertys Spekulation in erstaunlicher Weise vorgedacht sind.
Es ist kein Zufall, dass das stärkste Kapitel von Clausbergs Buch sich den "Geschäften auf Erden" widmet. Wie in der Chronofotografie und der Kinematografie Bildtechnologie, wissenschaftliches Erkenntnisinteresse und populäre Unterhaltung ineinander liefen, so regte Ebertys Gedankenexperiment naturwissenschaftliche Thesen und fantastische Erzählungen gleichermaßen an. Clausberg verfolgt, wie Ebertys Grundgedanken in Camille Flammarions überaus erfolgreiche Lumen-Erzählungen eingingen, und er stellt Beziehungen her zu der Erforschung von Nervenreizen durch Helmholtz, kosmologischen Spekulationen darwinistischer sowie theologischer Prägung und Fechners Überlegungen zu einem vierdimensionalen Universum. Wenngleich sich ein direkter Einfluss Ebertys kaum nachweisen lassen dürfte, hätte Clausberg in dieser Reihe auch noch Borges Erzählung "Das Aleph" anführen können, zumal er ausführlich auf Robert L. Forwards Science-Fiction-Roman Dragon's Egg von 1980 hinweist. Borges Vorstellung von einem Punkt, von dem aus das gesamte Universum, wie es zu allen Zeiten war, überschaubar wäre, ist bei Eberty fast identisch beschrieben und in der von Clausberg untersuchten Zeichnung "Astronomische Phantasie" von Heinrich Harder veranschaulicht. [1]
Clausberg zeichnet präzise und mit viel Gespür für interessante und oft überraschende Querverbindungen die Verflechtungen von Ebertys Gedankenexperiment in der Ideenwelt des 19. Jahrhunderts und die Nachwirkungen im 20. Jahrhundert nach. Allerdings erscheint der unmittelbare Einfluss von Ebertys Gedanken auf Benjamin und Cassirer zweifelhaft. Der Verfasser bemerkt zu recht, dass Benjamin seinen rückblickenden Engel der Geschichte unter anderen historischen Vorzeichen aufruft, und hier hat sich wohl eher ein generelles Sprach- und Denkbild erhalten, als dass noch von einer Kontinuität gesprochen werden könnte. Problematisch ist die Schlussfolgerung, die Eberty als Kronzeugen für das Ineinandergreifen von "zerbralen und apparativen Faktoren" im Sinn einer neuronalen Kunstgeschichte reklamiert. [2] Dass Kulturprozesse auf Konzepte der Kunst ebenso wie auf naturwissenschaftliche Thesen einen Einfluss haben, ist unbestritten. Doch die mathematisierten Naturwissenschaften spielen ein anderes Spiel als die Kunst. Ebertys Thesen wurden durch Einsteins Relativitätstheorie, der sie durchaus eine Anregung geliefert haben mögen, ad absurdum geführt (wie die Unmöglichkeit von Babbages Archiv der Atombewegungen durch die Thermodynamik); und hier waren Entwicklungen der Mathematik und der theoretischen Physik zweifellos entscheidender als Bildkonzepte. Die kenntnisreichen Analysen in "Zwischen den Sternen" liefern hingegen ein schlagendes Beispiel für die Möglichkeiten kulturhistorischer Untersuchungen, auch wenn der Anspruch einer übergreifenden Bildwissenschaft nur zum Teil eingelöst wird. Als Anregung für weitere Forschungen und eine Methodendiskussion bietet das Buch dennoch eine ausgezeichnete Grundlage.
Anmerkungen:
[1] Publiziert in: Bruno H. Bürgel: Aus fernen Welten. Eine volkstümliche Himmelkunde, Berlin 1910.
[2] Karl Clausberg: Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip, Wien 1999.
Henning Engelke