Karl Clausberg / Elize Bisanz / Cornelius Weiller (Hgg.): Ausdruck. Ausstrahlung. Aura. Synästhesien der Beseelung im Medienzeitalter, Bad Honnef: Hippocampus 2007, 288 S., ISBN 978-3-936817-22-5, EUR 39,90
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Der Dialog zwischen Kultur- und Naturwissenschaften ist in vielfacher Weise wieder aufgenommen. Insbesondere der Austausch von bildwissenschaftlich orientierten Disziplinen und der Hirnforschung im weitesten Sinn, die seit einiger Zeit durch rasante Fortschritte von sich reden macht, ist in Gang gekommen. Ungeachtet der prinzipiellen Schwierigkeiten, einen wirklichen Brückenschlag zwischen den so unterschiedlichen Ausrichtungen, Darstellungsweisen, Interessen und Aufgaben der soft und hard sciences, den humanities und den "eigentlichen" sciences zu bilden, hat dieses Gespräch bisher zu einigen produktiven Ergebnissen geführt. Karl Clausberg, der Mitherausgeber dieses interessanten Bandes, der bereits 1999 über "Neuronale Kunstgeschichte" schrieb, ist daran maßgeblich beteiligt. Ein solches Konzept bedeutet indessen nicht zwangsläufig, die arts mit den sciences zu untermauern; daher auch nicht, die Geschichte der Bilder allein auf Grundlage der Physiologie sowie Kultur allein mit Natur zu erklären und damit zu einem Determinismus zu gelangen, wie er im Konstruktivismus der Gehirnforschung angelegt ist. Vielmehr zeigt gerade eine kulturhistorische Perspektive, die in diesem Band die empirische Forschung überwiegt, die spezifisch kulturell bedingten Möglichkeiten auf, die menschliche Wahrnehmung zu stimulieren, sie zu erleben und darzustellen.
Dieser interdisziplinäre Sammelband vereint sechzehn Beiträge; zwölf davon aus den Kulturwissenschaften und vier aus den Naturwissenschaften. Die Leitbegriffe sind nicht so sehr die mit schöner wie wirksamer Alliteration verknüpften Termini des Haupttitels. Vielmehr ist es der Begriff der Synästhesie, der zugleich die anderen Begriffe vereint. Der Begriff hat gegenwärtig wieder eine besondere Konjunktur erfahren, nachdem bereits um 1900 eine Phase seiner intensiven wie populären Diskussion stattgefunden hatte. Damals war Synästhesie geradezu ein Modewort, stellvertretend nicht zuletzt für Kunst- und Künstlerkult; für die genialen Fähigkeiten einzelner Menschen, deren Wahrnehmung sich von derjenigen der anderen unterscheidet: nämlich Farben nicht nur sehen, sondern zugleich hören zu können; Musik nicht bloß zu hören, sondern auch zu sehen; oder Gedanken bereits in bildhafter Gestalt vor dem inneren Auge zu sehen, darauf wartend in einem materiellen Medium eine für alle sichtbare Gestalt zu finden; in einem Medium, das zugleich Garant für die Aura einer bestimmten Energieübertragung ist.
Der Band geht aus einer Tagung hervor, die 2003 im Hamburger Warburg-Haus stattgefunden hat. Der Ort war nicht zufällig gewählt. Stehen doch Aby Warburg und seine Kulturwissenschaftliche Bibliothek selbst für eine interdisziplinär ausgerichtete Kulturwissenschaft, die sich der Erforschung des historischen Bildgedächtnisses gewidmet hat; eines langen, bis weit ins Altertum zurückreichenden Gedächtnisses, in dem Bilder und ihre vom Körper übernommenen "Pathosformeln" über Jahrhunderte "nachleben". Sie übertragen dabei ihre multisensuellen, Sehen, Denken und Fühlen in gleichem Maße affizierenden Schwingungen. Die interdisziplinäre, gerade der Psychologie und den Naturwissenschaften gegenüber offene Ikonologie des Warburg-Kreises, aber auch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule stand dem Band Pate. Der kaum bekannte Zusammenhang von Warburg-Kreis und Frankfurter Schule wird erhellend von Hermann Schweppenhäuser dargestellt.
Hamburg war überdies ein Zentrum der synästhetischen Forschung in den 1920er-Jahren, wie es der Beitrag von Gabriele Rösch deutlich macht. Warburgs bislang nicht veröffentlichte Notizen zu einer "Ausdruckskunde auf anthropologischer Grundlage" zeigt im Titel auch einen wesentlichen Aspekt dieses Bandes an; einen Aspekt jedoch, der von seiner physiologischen wie physiognomischen Gebundenheit hier um den Begriff der eher immateriellen Aura erweitert wird. Im Begriff der Aura, trotz seines vielschichtigen wie diffusen Hintergrunds, liegt zugleich ein alternatives wie komplementäres Verständnis des Ausdrucks zu Grunde. Karl Clausberg, der zu "Aura und Ausdruck" den längsten und umfassendsten Beitrag in diesem Band liefert, zeigt, mit profunder Kenntnis und interdisziplinär geübten Fähigkeiten, das weite historische Umfeld des Aura-Begriffes auf. Gerade in der Synästhesie-Forschung und im Dialog zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, in der vitalistischen Philosophie wie in der psychologischen Forschung ist er zentral gewesen und könnte wieder fruchtbar gemacht werden. Zugleich wird in diesem Beitrag deutlich, dass der mehrschichtig wie widersprüchlich angelegte und entsprechend rezipierte Aura-Begriff bei Benjamin viele andere seiner Quellen überlagert hat, die bis in Antike und Mittelalter zurückreichen.
Benjamins Aura-Begriff und seine folgenreiche Geschichte steht im Fokus der Beiträge der jungen Autorin Qiongying Pan und des Kulturwissenschaftlers Wolfgang Bock. Abgrenzungen wiederum, wie sie Benjamin selbst formuliert hat, können zu seinen vulgär mystischen und populistisch esoterischen Verwendungen notwendig gezogen werden. Benjamins Aura-Denken wird noch einmal in einem etwas weit ausholenden und daher einiges wiederholenden Beitrag von Mauro Ponzi aufgegriffen, um es schließlich mit den Simulationen des gegenwärtigen "post-auratischen Zeitalters" zu kontrastieren.
Somit kann der interdisziplinäre Austausch wiederum nur dann gelingen, wenn der Begriff der Synästhesie von seiner heutigen klinischen Fixiertheit gelöst wird. Vielmehr werden in diesem Band seine historischen Voraussetzungen und codierten Bedingtheiten diskutiert und damit seine kulturtheoretischen Möglichkeiten aufgezeigt. Das macht, zumindest in Ansätzen, der Aufsatz von Elize Bisanz deutlich, der unmittelbar von zeichentheoretischen Folgerungen des Philosophen John Michael Krois und des Semiotikers Roland Posner in Kooperation mit Dagmar Schmauks ergänzt wird. Die kulturellen Prägungen werden nochmals, nun von der Seite der Hirnforschung aus, von Hinderk Emrich und Markus Zedler in einem knappen Beitrag bestätigt. Sekundiert wird das Phänomen der synästhetischen Wahrnehmung ferner anhand von konkreten Beispielen aus der bildenden Kunst wie etwa von der migränekranken Künstlerin Linda Anderson (Klaus Podoll); anhand der Musik (Renate Wieland) und nicht zuletzt, mit schmunzelnder, sinnesfreudiger Gestik, anhand des komplexen, wahrlich alle Sinne ansprechenden Weingenusses (Herrmann Prossenger).
Der Band schließt mit drei Essays, die kritisch einige Phänomene einer komplett mediatisierten, von Simulationen überzogenen Gegenwart der Massenkultur aufgreifen, deren Kritik vielfach schon in postmodernen Theorien formuliert wurde: die Aura rein simulierter Möglichkeiten und ihre Utopie, ein Leben mit unsterblichen und schmerzfreien Körpern haben zu können, wie sie Mauro Ponzi, leider nur in einem knappen Abspann, kritisch formuliert. Die zeitgenössische, an Benjamins und Adornos Ideologiekritik durchaus anknüpfende Kritik am auratischen Scheincharakter der medial inszenierten Welt findet ausgerechnet im Zentrum der konventionellen und kommerziellen Filmproduktion statt, nämlich in Hollywood selbst, wie die Filme Matrix, Truman Show oder Dark City belegen. Dies analysiert, sprachlich sehr frisch und originell, der Filmemacher Dani Peterson. Mit den eigenen filmischen Mitteln wird, zumindest in der Fiktion, eine Scheinwelt entlarvt, die kaum oder gar nicht mehr von einer wirklichen Welt zu unterscheiden ist. Dahinter steht allein noch die Macht unbekannter Betreiber, die ein ästhetisches, uns alle betäubendes Opiat verabreichen. Die subversive Kraft populärkultureller Antworten und ihre Möglichkeiten, sich der nur vermeintlich totalen Aura der ökonomischen und autoritären Globalisierung zu widersetzen, zeigt im letzten Beitrag Gerhard Schweppenhäuser auf.
Vermisst man in diesem Sammelband, der wie die meisten heutigen Sammelbände heterogen und vielstimmig ausfällt, auch ein wirkliches Zentrum, das der Begriff der Synästhesie nur vage angibt, so ist doch ein sehr anregendes Lesebuch entstanden; ein Lesebuch, das insbesondere dazu angetan ist, die Grenzen zwischen Kultur- und Naturwissenschaft wieder offener und produktiver zu gestalten.
Martin Schulz