Rezension über:

Simon Dubnow: Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Bd. 1: 1860-1903. Im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts hrsg. v. Verena Dohrn. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 537 S., ISBN 978-3-525-36950-0, EUR 49,90
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Simon Dubnow: Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Bd. 2: 1903-1922. Im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts hrsg. v. Verena Dohrn. Aus dem Russischen von Barbara Conrad, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 478 S., ISBN 978-3-525-36951-7, EUR 49,90
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Simon Dubnow: Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Bd. 3: 1922-1933. Im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts hrsg. v. Verena Dohrn. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 352 S., ISBN 978-3-525-36952-4, EUR 39,90
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Rezension von:
Wolfgang E. Heinrichs
Bergische Universität Wuppertal
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Stellungnahmen zu dieser Rezension:

Stellungnahme von Verena Dohrn mit einer Replik von Wolfgang E. Heinrichs

Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang E. Heinrichs: Simon Dubnow: Buch des Lebens (Rezension), in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/02/9455.html


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Simon Dubnow: Buch des Lebens

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Die Erinnerungen des bedeutenden osteuropäischen Historikers Simon Dubnow (1860-1941) liegen mit dieser Ausgabe zum ersten Mal vollständig in einer deutschen Übersetzung vor. Mit ihr ehrt das in Leipzig ansässige "Dubnow-Institut" seinen Namensgeber. Dabei haben die Herausgeberin Verena Dohrn, die Übersetzerinnen Vera Bischitzky und Barbara Conrad sowie alle anderen Mitarbeiter Herausragendes geleistet. Die Edition ist sorgfältig hergestellt und die Übersetzung gibt die anschauliche und einprägsame Sprache Dubnows treffend wieder.

Schon der Untertitel des dreibändigen Werkes verrät, dass es Dubnow mit ihm um mehr geht als um ein Tagebuch. Vielmehr will er mit der Veröffentlichung seiner privaten Materialsammlung die historische Epoche des 19. Jahrhunderts und ihren Bruch zu der ihr folgenden des 20. Jahrhunderts widerspiegeln. Dabei sieht er seine eigene Existenz, die des jüdischen Volkes sowie die Moderne als jeweils konzentrische Kreise der Geschichte, die er beschreiben will. Seine Memoiren sind bewusst als Traditionsquelle geschrieben. Dubnow versteht sich als Chronist und Erzieher, Sammler von Eindrücken als "Geschichtsmaterial" (Bd. 3, Schlussbemerkung, 171) und Analytiker desselben.

Dubnow hatte sich bereits, wie er selbst in seinem Vorwort schreibt, während des Ersten Weltkrieges Notizen für dieses "Erinnerungsbuch" gemacht, wohl wissend, dass er hiermit nicht allein seine Identität und sein Lebenswerk der Mit- und Nachwelt zu verstehen gibt, sondern die Geschichte der "russländisch-jüdischen" Kultur in einer bestimmten Epoche aufzeigt und ihr Verwobensein mit den allgemeinen Zeitläufen. Im Bewusstsein in einer "historischen Endzeit" zu leben, will er als ein "Vertreter" der "entschwindenden Epoche ihr ein Denkmal setzen". (Bd. 1, 49)

Die Erinnerungen umfassen die Moderne des "russländischen Judentums" von seinen Anfängen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zu den radikalen Umwälzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, den Zerstreuungen und Zerstörungen durch die Revolution, durch den Stalinismus und den Nationalsozialismus. Zwangsläufig ergibt sich ein enger Bezug zu Dubnows Hauptwerk, seiner zehnbändigen "Weltgeschichte des jüdischen Volkes" (1925-29), seiner "Geschichte der Juden in Russland und Polen" (1916-20) sowie seiner "Geschichte des Chassidismus" (1931). In allen Veröffentlichungen geht es ihm um eine Verortung der jüdischen Identität, seiner eigenen und seines Milieus, in das Ganze der Weltgeschichte, um eine "Integration der Seele" (Bd. 1, 49) und um deren "Rechenschaft" (cheschbon ha -nefesch, wobei nefesch wohl nicht im platonischen Sinne als "Seele" zu verstehen ist, sondern nach der ursprünglich hebräischen Bedeutung als Leben in seiner Ganzheit), dessen, was war. Hier knüpft Dubnow an den Historismus an, geht aber mit seinem existential-hermeneutischen Ansatz über ihn hinaus. Anders als sein großer Vorgänger Heinrich Graetz (1817-1891), der mit seinem Grundlagenwerk "Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart" (11 Bde., 1853-75) das Konzept einer jüdischen "Leidens- und Gelehrtengeschichte" verfolgte und die Geistesgeschichte, vor allem Moses Mendelssohn und die Haskala, in den Mittelpunkt rückte, ist Dubnow mehr sozialgeschichtlich interessiert. Es geht ihm um die großen politischen und sozialen Bewegungen, die das "russlandjüdische Milieu" erst bedingen und umformen. So sind seine Memoiren eine wahre Fundgrube für Sozial- und Mentalitätshistoriker.

Die Erinnerungen sind wie auch der größte Teil seiner anderen historischen Werke in russischer Sprache geschrieben. Sie ist eigentlich nicht Dubnows Muttersprache (Bd. 1, 101), aber die Sprache, die für ihn die kulturelle Einheit seines Milieus am besten ausdrückt. Erschienen ist das Werk zuerst in Riga, die ersten beiden Bände 1934/35 (im Verlag Jaunâtnes Grâmata), der dritte 1940 im Selbstverlag. 1937 gab der Soziologe und Publizist Elias Hurwicz (1884-1973) in der jüdischen Buchvereinigung Berlin eine Kurzfassung der ersten beiden Bände unter dem Titel "Mein Leben" heraus. Ist die Veröffentlichung eines jüdischen Autors unter den restriktiven Umständen im nationalsozialistischen Deutschland schon bemerkenswert genug, so ist es geradezu beispiellos, wenn mit Dubnow ein im Ausland lebender aktiver Kritiker in Berlin gedruckt wird. Noch zu seinen Lebzeiten erscheint eine hebräische Übersetzung des ersten Bandes in Tel Aviv (1936), nach dem Zweiten Weltkrieg dann zwei weitere Ausgaben: eine vollständige russische Ausgabe (New York 1957), eine jiddische Übersetzung (Buenos Aires 1962/63). Kurz vor der hier nun in deutscher Sprache neu edierten Ausgabe sind eine weitere russische (Petersburg 1998) und eine französische Übersetzung (Paris 2001) erschienen. Die Forschung ist also neu auf Dubnow aufmerksam geworden. [1]

Das Werk ist in drei Teile konzipiert, die den drei Bänden entsprechen. Im ersten Band werden Dubnows Kindheit und Jugend geschildert, die Lehrjahre, der Beginn des publizistischen und kulturellen Engagements, das ihn zu einem Wortführer der russischen Juden im Zarenreich werden ließ. Dubnow führt aus, dass er aus einer angesehenen Familie von Gelehrten und Kaufleuten stammt. Am 10.9.1860 in Mstislaw in Weißrussland geboren, zieht es ihn aus seiner traditionellen Lebenswelt vom Cheder zu den Schulen der Aufklärung. Anschaulich beschreibt er das Leben eines jungen Juden, der im "Ansiedlungsrayon" für die Juden im westlichen Grenzland des Zarenreiches lebt, in der russischen Emanzipationsbewegung eine Heimat sucht und doch permanent nach seiner Identität und deren Integration fragt. Dubnow zieht es zu der "Intelligenzija" nach Petersburg, die sich um die russisch-jüdische Zeitschrift "Woschod" (Sonnenaufgang) sammelt. Er beschreibt die Hoffnungen der jungen Generation auf kulturelle Integration und die Desillusionierung durch die antijüdische Politik nach der Ermordung Zar Alexanders II. Er zieht schließlich nach Odessa, wo er die Grundlagen seiner Ideen zur jüdischen Geschichte entwickelt. Diese wird für ihn zum integrativen Moment des Judentums überhaupt, zum Mittel der Identitätsfindung im Umbruch der Moderne. Sichtbar wird die ambivalente Stellung des Judentums in Dubnows Forderungen nach Gleichstellung unter gleichzeitiger Wahrung einer Kulturautonomie, nach Staats- und Minderheitenrechten zugleich. Er sieht bei den Juden eine doppelte Loyalität, als Staatsbürger und als Angehörige des eigenen Volkes. Als Protagonisten eines über das Staatsbürgertum hinausreichenden Kosmopolitismus misst er den Juden dabei eine weitere, besondere Rolle zu.

Der zweite Band behandelt die Jahre 1903 bis zu seiner Emigration nach Berlin 1922. In dieser Zeit lebt Dubnow in Petersburg, das zu einem Zentrum des Weltgeschehens wird. Dubnow schildert hier die großen Umbrüche im Zarenreich bis nach der Revolution und gibt eine Chronik von Krieg, Bürgerkrieg, Umsturz und Revolution. Bestürzt nimmt der Leser Kenntnis von der Erfahrung, wie Staat und Gesellschaft nach militärischen Niederlagen und innenpolitischen Problemen die Juden für die Krise haftbar zu machen versuchen, und diese Zeit durch eine permanente Pogromstimmung gekennzeichnet ist. Dubnow schildert mitreißend, wie das osteuropäische jüdische Milieu hin und her geworfen wird zwischen wachsender Politisierung, Emanzipation, die Diskussion um ein Leben in der Diaspora oder der Auswanderung nach Israel. Fragen der Assimilation, dem Anschluss an die Revolution, der Gettoisierung sowie eines Neuanfangs in Israel oder der Auswanderung in ein anderes Land bewegten die Gemüter.

Der dritte Band nimmt Dubnows Zeit im Berlin der Weimarer Republik in den Blick. Er gehört zu den russisch-jüdischen Revolutionsflüchtlingen, die hier ein eigenes Emigrantenmilieu bilden. Er erlebt den Glanz der "goldenen Zwanziger", die ihm dazu verhelfen, sein Lebenswerk zu vollenden. In der deutschen Hauptstadt findet er ausgezeichnete Bedingungen: gut ausgestattete Bibliotheken, Freunde und Verleger, sodass er hier seine historischen Hauptwerke vollenden kann. Dubnow engagiert sich im Verband russischer Juden und in Komitees gegen Pogrome und Vertreibungen. Er setzte sich insbesondere für die politische und wissenschaftliche Anerkennung der osteuropäischen Juden ein. Er entwickelte die Vision einer neuen nationalstaatlichen Ordnung für Europa, musste aber schließlich den Aufstieg des Nationalsozialismus miterleben. So wird er in den letzten Kapiteln zum Zeuge des Untergangs. Mit dem Regierungsantritt Hitlers musste er nach Riga fliehen, wo er seine Erinnerungen nicht fortführt. 1941 wird Dubnow unter deutscher Besatzung im Alter von 81 Jahren ermordet.

Der Text hat vier verschiedene Ebenen: Rahmenerzählung, Erinnerungen, Tagebücher und Briefe. Dubnow leitet ihn ein und schreibt eine "Schlussbemerkung". Aus seinen Tagebüchern und Briefen trifft Dubnow eine Auswahl, versucht sie sozusagen historisch als "objektive" Quelle zu fassen. Nicht unkritisch geht er dabei mit seinem eigenen Gedächtnis um. Im ersten Band bildet das Tagebuch die Grundlage für Dubnows Memoiren, in denen er seine Erlebnisse, Reflexionen und Empfindungen zusammenfasst. In den beiden anderen Bänden ist das Tagebuch der Text - in gekürzter und überarbeiteter Form - selbst. In den politisch dramatischen Zeiten des Ersten Weltkrieges und der Revolutionsjahre entwickelt er ein Bewusstsein von Zeitzeugenschaft, aus dem heraus er sein Tagebuch führt.

Der Text ist ergänzt um Dubnows Autobibliografie. Neben der umfangreichen, instruktiven Einführung und den wirklich lesenswerten interpretierenden Vorworten von Dan Diner finden sich in jedem Band umfassende Sach-, Wort- und Personenerläuterungen sowie ein sachkundiger und weiterführender Anmerkungsapparat. Am Schluss des dritten Bandes sind die Erinnerungen des Enkels Dubnows, Victor Ehrlich, "Leben mit Großvater" abgedruckt. Ehrlich beschreibt in ihnen den Lebens- und Arbeitsstil seines Großvaters. Insgesamt ist diese dreibändige Edition eine hervorragende Forschungsleistung, die sowohl dem interessierten Laien als auch dem Forscher der jüdischen Geschichte wertvolle Anschauung vermittelt.


Anmerkung:

[1] Simon M. Dubnov: Kniga žizni. Materialy dlja istorii moego vremeni. Vospominanija i razmyūlenija. Pod. red. V. E. Kel'ner, Petersburg 1998; Simon Dubnov: Le livre de ma vie. Souvenirs et réflexions. Matériaux pour l'histoire de mon temps. Aus dem Russischen von Brigitte Bernheimer, mit einem Vorwort von Henri Minczeles, Paris 2001.

Wolfgang E. Heinrichs