Simon Dubnow: Jüdische Geschichte - für Kinder erzählt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 215 S., ISBN 978-3-525-30017-6, EUR 29,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Stefan Litt (Hg.): Jüdische Gemeindestatuten aus dem aschkenasischen Kulturraum 1650-1850, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014
Marina Caffiero: Storia degli ebrei nell'Italia moderna. Dal Rinascimento alla Restaurazione, Roma: Carocci editore 2014
Michael Brenner / Daniela F. Eisenstein (Hgg.): Die Juden in Franken, München: Oldenbourg 2011
Michael Berger: Eisernes Kreuz, Doppeladler, Davidstern. Juden in deutschen und österreichisch-ungarischen Armeen. Der Militärdienst jüdischer Soldaten durch zwei Jahrhunderte, Berlin: trafo 2010
Cilli Kasper-Holtkotte: Die jüdische Gemeinde von Frankfurt/Main in der Frühen Neuzeit. Familien, Netzwerk und Konflikte eines jüdischen Zentrums, Berlin: De Gruyter 2010
Der Anfang einer leidensvollen Geschichte kann sich märchenhaft anhören: "Vor 4000 Jahren lebten große Völker in den nahe am Mittelmeer gelegenen Ländern Asiens und Afrikas und errichteten dort zwei mächtige Reiche, Babylonien auf der einen Seite und Ägypten auf der anderen." (29) Mit diesen Sätzen beginnt ein Geschichtslehrbuch für Kinder, das Simon Dubnow 1931 in Jiddisch verfasste und auch an Erwachsene adressierte, die "keine Möglichkeit haben, die jüdische Geschichte gründlicher zu studieren". (24) Dubnows Darstellung, die kaum zweihundert Seiten in Anspruch nimmt, macht deutlich, dass die Kürze keiner Verkürzung gleichkommen muss. Nun liegt der Band in seiner ersten deutschen Übertragung vor, was der Herausgeberin Marion Aptroot - Professorin für Jiddische Kultur, Sprache und Literatur an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf - und der Übersetzerin Jutta Schumacher zu verdanken ist.
Simon Dubnow - geboren 1860 im weißrussischen Mstislawl, gestorben 1941 im Rigaer Ghetto - stammte aus einer Rabbiner- und Gelehrtenfamilie. Der leidenschaftliche Leser der französischen und englischen Philosophen sowie der deutschen Klassiker, der sich sein Wissen autodidaktisch aneignete, war als Dozent und Publizist in Wilna, Odessa, Sankt Petersburg und Berlin tätig. Dubnow kritisierte auf das Heftigste die traditionellen jüdischen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen: Er plädierte für die Abschaffung der Cheder-Schulen, die er mit der ägyptischen Sklaverei und Kindergefängnissen verglich, und für die Errichtung von Bildungsstätten, in denen neben dem traditionellen jüdischen Wissen die weltlichen Wissenschaften gelehrt werden sollten. Dubnows radikale Reformvorschläge standen im engsten Zusammenhang mit seinem Hauptanliegen, die Historiographie des osteuropäischen Judentums auf ein von Klischees und Voreingenommenheit befreites wissenschaftliches Fundament zu stellen. Das in Russisch verfasste zehnbändige Werk "Die Weltgeschichte des jüdischen Volkes" war die Frucht dieser Bemühung um eine neue Geschichtswissenschaft vom Judentum, deren Vermittlung einer nationalen Erziehung des jüdischen Volkes dienen sollte. Dementsprechend floss in das Geschichtsbuch für Kinder, dem ein dreiteiliges "Lehrbuch der jüdischen Geschichte" für Schüler der Sekundarschulen vorausging, eine jahrelange methodologische Auseinandersetzung des Autors mit der jüdischen Geschichte und deren Historiographie ein.
In einer lebhaften dynamischen Prosa erzählt Dubnow in zwei Perioden eine viertausendjährige Geschichte des jüdischen Volkes. Die erste Phase, die er als "orientalisch" bezeichnet, umfasst den Zeitraum von den allerersten Anfängen bis zur Eroberung Jerusalems 1099. Die zweite, "europäische" Periode beginnt mit dem "goldenen Zeitalter" der jüdischen Kultur auf der Iberischen Halbinsel im 11./12. Jahrhundert und wird mit einer Darstellung der Situation der Juden nach dem Ersten Weltkrieg abgeschlossen. Dieser Teil behandelt die jüdische Präsenz in Europa einschließlich der Emigration nach Amerika und der ersten zionistischen Ansiedlungen in Palästina. Der Band endet mit einer Passage, die Dubnows Glauben an die "kollektive Unsterblichkeit" des jüdischen Volkes zum Ausdruck bringt: "Anfang des 19. Jahrhunderts gab es auf der ganzen Welt nicht mehr als drei Millionen Juden. Jetzt, hundert Jahre später, sind es über 15 Millionen. Das Volk wächst, und dieses Wachstum wird niemand aufhalten. Dies hat die ganze viertausendjährige jüdische Geschichte bewiesen. / Die jüdische Geschichte geht weiter." (201) Am Vortag der Katastrophe bringt hier ein jüdischer Historiker seine Überzeugung von einem Erziehungsauftrag und einer Lehrkompetenz der Geschichtswissenschaft zum Ausdruck.
Dubnow erzählt die Geschichte der Juden als Familienbiographie: Liebe- und verständnisvoll nähert er sich deren Protagonisten. Wunderbar menschelt es in dieser Großerzählung vor lauter Sehnsucht, Neid, Eifersucht und Trauer. So "freute sich [Saul] über Davids Sieg, aber er war auch eifersüchtig auf den jungen Helden, den man höher stellte als ihn, den König." (39) Von Jehuda ha-Levi heißt es: "Es wird erzählt, [...] [b]eim Anblick der zerstörten Stadt habe er sich auf die Erde geworfen, die Steine geküsst und mit Tränen begossen und eines seiner Zionslieder gesungen." (122) Mit beispielloser Knappheit und Prägnanz findet sich an einer anderen Stelle das Dilemma der Assimilation ausgedrückt: "In gewissem Maße war es sehr gut, dass die Juden ihre Zurückgezogenheit aufgaben und sich ihren christlichen Nachbarn annäherten, aber oft übertrieben sie es auch." (172)
Die Wiedergabe von Ereignissen bildet in Dubnows Ansatz nur einen Ausgangspunkt für sozial- und kulturgeschichtliche Betrachtungen, die die Kontinuität in der Geschichte jenseits aller historischen Brüche aufzeigen sollten. Das Augenmerk wird hierbei auf soziale Strukturen gelenkt, die das (kulturelle) Überleben des jüdischen Volkes sicherten: Familien- und Geschlechterverhältnisse, Institutionen gemeinschaftlichen Lebens sowie Wirtschafts- und Erwerbsstrukturen. Verhältnismäßig ausführlich beschäftigt sich Dubnow mit der Genese der jüdischen Literatur und benutzt diese als Quelle kulturgeschichtlicher Erkenntnisse. Diese Darstellungsweise reicht weit über eine Leidensgeschichte hinaus: Sie zeigt das jüdische Volk als einen aktiven Geschichtsprotagonisten - als "de[n] wahre[n] Held[en] und Träger der Geschichte". (23) So lassen sich an der komprimierten Darstellung des Lehrbuchs die Akzentverschiebung von einer zu erleidenden zu einer mitgestalteten Geschichte sowie das sich dahinter verbergende Geschichtsverständnis bestens nachvollziehen.
Der Band zeugt von wissenschaftlicher Redlichkeit und verlegerischer Sorgfalt. Der edierte Text wird in einer bündigen, informativen Einführung der Herausgeberin kontextualisiert. Dessen Inhalt erschließt sich zusätzlich dank der Anmerkungen, die als Fußnoten dem laufenden Text hinzugefügt wurden. Sie enthalten Erläuterungen zu den historischen Personen und Verweise auf komplementäre Stellen in der "Weltgeschichte des jüdischen Volkes", wodurch sich das Lehrbuch als eine hervorragende Handreichung für ein Studium von Dubnows Opus Magnum erweist. Eine Liste der Abkürzungen und ein Glossar der hebräischen Begriffe runden den Band ab. Auch den hohen ästhetischen Wert des Buches sollte man nicht verschweigen. Ein cremefarbenes widerstandsfähiges (der Kinderhände wegen?) Papier und ein einladender Einband, der innen mit Faksimiles von Einzelseiten der Originalausgabe geschmückt ist, bereiten bei der Lektüre ein wahres Vergnügen. Aus vielfachen Gründen kann man also diesem Band besonders viele Leserinnen und Leser wünschen.
Grażyna Jurewicz