Helmut Rönz: Der Trierer Diözesanklerus im 19. Jahrhundert. Herkunft - Ausbildung - Identität. (= Rheinisches Archiv; 151), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 2 Bde., 1392 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-412-06606-2, EUR 128,00
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Als einen Beitrag zur Debatte um das katholische Milieu und gleichzeitig als kritische Widerlegung gängiger Milieubegriffe versteht Helmut Rönz seine monumentale Dissertation. Dafür wählt er den Weg einer Regionalstudie. Der Gegenstand dieser auf das Bistum Trier konzentrierten Untersuchung wird noch einmal auf die Gruppe des Diözesanklerus eingeschränkt. Rönz betritt damit weitgehend Neuland. Denn gängigerweise wird den Priestern in den Milieutheorien wohl die Rolle eines "Milieumanagers" (O. Blaschke) zugewiesen, doch fehlen bisher mit Ausnahme einiger Arbeiten von Erwin Gatz und der Dissertation von Thomas Schulte-Umberg über den Münsteraner Klerus für die katholische Kirche weitere Untersuchungen.
Rönz' Untersuchungsgegenstand sind alle Priester, die im 19. Jahrhundert in irgendeiner Weise im pastoralen Dienst der Diözese Trier tätig waren. Damit werden nicht nur die Diözesanpriester erfasst, sondern auch die von der Säkularisation der Jahre um 1800 betroffenen ehemaligen Ordensleute und Priester aus anderen Diözesen, die aber im Bereich der Diözese Trier tätig waren. Nach einer Beschreibung der Ausgangssituation im Jahr 1802, dem Jahr der kirchlichen Neuorganisation in Frankreich nach dem napoleonischen Konkordat, beschreibt Rönz den Trierer Klerus in vier zeitlichen Längsschnitten: von 1802-1821 (Neugründung der Diözese Trier), von 1821-1848, von 1848-1875 (Höhepunkt des Kulturkampfs) und von 1875-1901. Die jeweiligen Kapitel sind nach demselben Untersuchungsschema aufgebaut und ermöglichen somit eine größtmögliche Vergleichbarkeit. Zunächst wird eine geografische Beschreibung der Diözese gegeben, ihre naturräumliche Gliederung und die Bevölkerungsentwicklung werden beschrieben sowie die wirtschaftlichen Rahmendaten erhoben. Den kirchlichen Strukturen ist der zweite Abschnitt gewidmet; hier kommen vor allem die Veränderungen in der Zusammensetzung der Dekanate zur Sprache.
Die nächsten beiden Abschnitte beschäftigen sich mit der Organisation der Priesterausbildung im jeweiligen Zeitraum, mit den Seminaren und ihrer Leitung, sowie mit der Diözesanleitung, also dem Bischof und seinen Mitarbeitern in Generalvikariat und Verwaltung. Nach Großräumen und Dekanaten gegliedert ist dann der Hauptteil jedes Kapitels, nämlich eine Beschreibung des Klerus nach seiner regionalen und sozialen Herkunft, nach den ausgeübten Funktionen und nach den Orten ihrer Priesterweihe, was Rückschlüsse auf die Personalrekrutierung zulässt. Diese penibel statistisch unterfütterten Untersuchungen werden auch für die bistumsfremden Geistlichen durchgeführt. Auf diese Weise entsteht ein sehr dichtes Bild des Trierer Diözesanklerus für das gesamte 19. Jahrhundert. Die einzelnen Daten sind über die beiliegende CD aufschlüsselbar. Das (nur dort aufrufbare) Verzeichnis der ausgewerteten Archive umfasst allein 32 Seiten! Überhaupt lohnt eine nähere Beschäftigung mit dem Datenmaterial, das statistische Angaben zu 3.527 Priestern aus dem Bistum Trier und 846 aus anderen Bistümern zusammenführt, das aber auch für 911 Orte die Bevölkerungsentwicklung des 19. Jahrhunderts und den jeweiligen katholischen Bevölkerungsanteil aufweist, um nur ein Beispiel für weiterführende Auswertungsmöglichkeiten zu nennen.
Die Ergebnisse einer solchen quellengesättigten Studie lassen sich nicht leicht zusammenfassen. Das ging dem Autor selbst so, denn das mit "Ergebnisse und Folgerungen" überschriebene Kapitel umfasst 94 Seiten und ist selbst wieder ein Beispiel dafür, dass Helmut Rönz gelegentlich über seinen Zahlen der Blick für die durchgängigen Linien verloren gegangen ist. Trotzdem sei ein Resümee versucht:
Die theologischen Einflüsse auf den Trierer Diözesanklerus changierten im Untersuchungszeitraum von der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominanten Aufklärung mit einem Zwischenspiel der hermesianischen Theologie zum fast ausschließlich vorherrschenden Ultramontanismus nach dem Kulturkampf. Die jeweiligen theologischen Prägungen wurden an Jugendliche in Konvikten, zunehmend auch im ländlichen Raum, weiter getragen. Die Priester waren angehalten, sich theologisch und pastoral regelmäßig weiterzubilden, gleichermaßen wie das Bistum für einen guten Prozentsatz Promovierter in den Reihen der Priester sorgte, die neben dem Hochschuldienst und der Bistumsverwaltung auch in der Gemeindeseelsorge zu einem entsprechenden geistigen Niveau beitrugen. Die Führungselite rekrutierte sich zu einem hohen Prozentsatz (annähernd 40%) aus den wenigen städtischen Zentren des Bistums. Von der sozialen Herkunft waren Handwerker- und Bauernsöhne dominant, nicht jedoch das Arbeitermilieu. Die Priesterzahlen veränderten sich zwar im 19. Jahrhundert teilweise erheblich, erfuhren Einbrüche nach 1794, in den 1840er- und 1850er-Jahren und während des Kulturkampfs, stiegen aber insgesamt betrachtet von der Gründung des Bistums Trier bis zum Ersten Weltkrieg um etwa ein Drittel an. Hingegen nahm die Zahl der Katholiken im Bistum im gleichen Zeitraum um mehr als das Doppelte zu, wobei große regionale Unterschiede zu konstatieren sind.
Hier nimmt Rönz seine Kritik an der Milieuthese wieder auf. Für den Trierer Klerus sieht er keine seiner Meinung nach für das katholische Milieu postulierte Homogenität gegeben. Ein proletarisch geprägter Saarklerus stand einem ländlichen Eifelklerus gegenüber. War das Milieu also weniger von der Religion als vielmehr von den ländlich-kleinbürgerlichen, bildungsdefizitären und wirtschaftlichen Strukturen geprägt? Rönz' abschließendes Fazit: "So war der Klerus des südlichen Rheinlandes geprägt durch die ökonomische Situation seiner pastoralen Objekte, der katholischen Christen. Es war somit ein kleinbürgerlich-ländlich-proletarisch-kaufmännisch geprägter Klerus aus ländlich-kleinstädtisch-bürger-städtisch-industriestädtischem Raum - kurz: er war der Spiegel seines Volks." (1270). Die Vielfalt der Lebenswelten prägte auch unterschiedliche Mentalitäten aus.
In diesem Sinn ist die Bonner Dissertation von Helmut Rönz ein weiterer Baustein zum Verständnis des Katholizismus im 19. Jahrhundert. Ob damit die Milieuthese erschüttert ist, bleibt fraglich. Hierzu müsste man auf die konkrete Lebenskultur schauen, auf die Vereine und die konfessionelle Presse, auf die religiöse Lebenspraxis und die politischen Organisationsformen. Ansätze dafür finden sich an vielen Stellen der vorliegenden Studie, an denen Rönz über die Statistik hinausgeht und auf konkrete Lebensgeschichten von Priestern eingeht. Sie werden ergänzt durch die Ausführungen von Bernhard Schneider im vierten Band der "Geschichte des Bistums Trier". Für weitere Forschungen bleibt aber noch viel Raum. Es ist zu hoffen, dass die vorgelegte Kollektivbiografie, deren enorme Materialfülle dem Rezensenten eine gehörige Portion Bewunderung entlockt, durch kleinteiligere und zeitlich eingegrenzte Regionaluntersuchungen ergänzt wird. Ob sich jemand für die Nachbardiözesen oder andere deutsche Regionen an eine ähnliche Arbeit macht, kann nur erhofft werden, würde unser Wissen um eine für die Entwicklung des Katholizismus zentrale Personengruppe aber in hohem Maße bereichern.
Joachim Schmiedl