Leonid Luks: Der russische "Sonderweg"? Aufsätze zur neuesten Geschichte Russlands im europäischen Kontext (= Soviet and Post-Soviet Politics and Society; Vol. 16), Hannover: Ibidem 2005, 433 S., ISBN 978-3-89821-496-4, EUR 34,90
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Sieht man genau hin, so geht jedes Land seinen, jede Nation ihren "Sonderweg", nur wird dies bei den einen ständig diskutiert, zum Beispiel bei den Deutschen, während im Hinblick auf andere, etwa auf die Franzosen, davon weniger die Rede ist. Der Verfasser der in diesem Sammelband wieder abgedruckten Aufsätze, Osteuropahistoriker an der Katholischen Universität Eichstätt, verfolgt das Ziel, den "Sonderweg" der Russen innerhalb Europas nachzuzeichnen. Damit wendet er sich zunächst gegen Tendenzen, Russland und die Russen gewissermaßen aus Europa "hinauszuschreiben" und dies damit zu begründen, dass die russische Geschichte bestimmte Entwicklungsphasen wie etwa die Reformation nicht in gleicher Weise durchgemacht habe wie das übrige Europa. Dass es diese europäische "Normalgeschichte" gar nicht gibt, wird dabei übergangen.
Russland erstreckt sich zwar seit dem 16. Jahrhundert geografisch über große Teile nicht nur Europas, sondern auch Asiens, aber es ist bisher nicht wirklich gelungen, die Russen in ihrer ethnologisch-sprachlich-kulturhistorischen Gestalt einem anderen historischen Kraftfeld zuzuordnen als dem europäischen. Das Verhältnis Russlands zum übrigen Europa wird im ersten Teil des Bandes ausdrücklich thematisiert, während es zu den Aufsätzen in den weiteren vier Teilen den Hintergrund bildet. Dort geht es dann um den Charakter der Oktoberrevolution und den Terror unter Stalin, um den Vergleich "rechter" und "linker" totalitärer Bewegungen und Regime, also vor allem Bolschewismus und Nationalsozialismus, um das Verhältnis zwischen Russland und Polen sowie um die Perestrojka-Reformen und den Untergang der Sowjetunion.
Am eindringlichsten sind die Arbeiten zur Stellung der Juden in der neueren Geschichte Russlands ausgefallen. Dieses Thema klingt an vielen Stellen an, speziell sind ihm vier Untersuchungen gewidmet. Zweimal setzt Luks sich mit Neuerscheinungen auseinander, in denen es um die Rolle der Juden in den revolutionären Bewegungen, in der bolschewistischen Partei, in der Oktoberrevolution und bei der Errichtung und Durchsetzung der Sowjetmacht geht. In seiner Analyse von Aleksandr Solženicyns zweibändigem Werk über die zweihundert Jahre Geschichte der Juden in Russland [1] weist er nachdrücklich die Zwiespältigkeit, ja Fragwürdigkeit dieser Darstellung nach. Der Schriftsteller, dessen großrussisch-slavophile Grundhaltung schon gegen Ende seines amerikanischen Exils immer deutlicher in Erscheinung getreten war, erhebt hier in wachsendem Maße Anklage gegen eine angebliche Anpassung der russischen Intelligenz an die jüdische und eine Dominanz der Juden in der revolutionären Bewegung. Er schreibt den Niedergang des russischen Zarismus wie auch den bolschewistischen Terror diesen "Russlandhassern" zu, zugleich verharmlost er das Verhalten und die Taten den jeweiligen Trägern und Funktionären der Macht. Luks hat zweifellos mit seinem Urteil Recht, es handele sich keineswegs um ein Werk von irgendeinem wissenschaftlichen Anspruch, vielmehr diene es der Unterhaltung und Erbauung, vor allem aber der historisch-moralischen Selbstentlastung, da es die Geschichte der Revolution in Russland "entrussifiziere". In gleicher Weise unterzieht er Rogalla von Biebersteins umstrittenes Buch über die Juden und den Bolschewismus [2] einer eingehenden Kritik, die durch ihre Sachlichkeit und Faktenbezogenheit überzeugt.
In den beiden anderen Aufsätzen kommt es Luks hauptsächlich darauf an, die "Brüche und Widersprüche" (161) in Stalins Einstellung gegenüber der jüdischen Bevölkerung herauszuarbeiten. Für die gegen die Juden gerichteten Kampagnen gab es durchaus allgemeine machtpolitische Motive, und es konnte mal die eine, mal die andere Gruppe in der Bevölkerung und im Machtapparat treffen. Der spezifisch antisemitische Stachel in Staat und Gesellschaft Russlands blieb jedoch weiterhin, wenn nicht verstärkt wirksam.
Es ist durchaus positiv zu würdigen, dass Luks seine Beobachtungen nur auf das Nachweisbare gründet und jegliche Spekulation vermeidet. So lässt er die Frage nach dem tiefsten Kern der Ansichten und Motive Stalins ausdrücklich offen.
Recht instruktiv sind die beiden Aufsätze über die "Eurasier", die Russland eine eigenständige historisch-kulturelle Position zwischen Europa und Asien zuschreiben. Ihre im russischen Exil der Zwischenkriegszeit entwickelte Ideologie hat im heutigen Russland eine bemerkenswerte Wiedergeburt erlebt. Hingegen sind die Abhandlungen über den Stalinismus als System ebenso überholt wie die über die seinerzeit aktuellen Beobachtungen zu den Perestrojka-Reformen und zum Zerfall der Sowjetunion. Die Forschung ist erheblich weiter gekommen, gerade zum Stalinismus sind wichtige Arbeiten erschienen, die hier nicht berücksichtigt sind. Auch das Ende der Sowjetunion sieht man inzwischen aus größerer zeitlicher Distanz differenzierter, zumal da sich die Frage nach Kontinuität und Wandel in Russland unter Putin neu stellt.
Was sich in der Auseinandersetzung mit Mythen, Vorurteilen und Mutmaßungen als Vorteil erweist, der strikte Rückgriff auf das, was aus den Quellen beweisbar ist, wirkt sich an anderer Stelle nachteilig aus: der streckenweise weitgehende Verzicht des Verfassers auf die Einbeziehung insbesondere der deutschen und englischsprachigen Sekundärliteratur und die kritische Auseinandersetzung mit ihr. Über ein Thema wie "Moskau, das Dritte Rom" kann man heute, in einem aktualisierten Aufsatz, nicht mehr schreiben, ohne etwa die grundlegenden Arbeiten von Peter Nitsche und Frank Kämpfer heranzuziehen (21). Ebenso vermisst man eine schärfende Analyse und Bewertung der Begriffe wie auch die Entwicklung von Thesen, die die Diskussion voranbringen könnten. So spricht Luks beispielsweise in der Einleitung zu dem Band von "Europäisierung" und "Westernisierung" sowie von "Orientalisierung" Russlands (7), ohne auch nur andeutungsweise etwas von den Debatten der letzten Jahre um diese problematischen Begriffe erkennen zu lassen.
Der Band dient dank des vornehmlich deskriptiven Charakters der in ihm versammelten Arbeiten der soliden Vermittlung historischer Kenntnisse und eines abwägenden Umgangs mit ihnen. Was den "Sonderweg" Russlands betrifft, so wird er an einigen Punkten zuverlässig markiert, aber eine Gesamtsicht, ein anregender, vielleicht sogar mutiger Entwurf, wird nicht zur Diskussion gestellt.
Anmerkungen:
[1] Aleksandr Solženicyn: Dvesti let vmeste (1795-1995) [Zweihundert Jahre zusammen], 2 Bände, Moskva 2001/2002.
[2] Johannes Rogalla von Bieberstein: "Jüdischer Bolschewismus". Mythos und Realität. Mit einem Vorwort von Ernst Nolte, Dresden 2002.
Hans Hecker