Leonid Luks: Zeithistorische Streitfragen. Essays und Repliken (= Geschichte. Forschung und Wissenschaft; Bd. 41), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2012, 235 S., ISBN 978-3-643-11741-0, EUR 19,90
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Die Themen des Bandes "Zeithistorische Streitfragen" kreisen um die Schwerpunkte der wissenschaftlichen Arbeit des Eichstätter Historikers Leonid Luks. Diese sind breit gefächert und reichen von der osteuropäischen Ideengeschichte über die Geschichte der Komintern bis hin zu Faschismus- und Totalitarismustheorien. Der Band besteht im Wesentlichen aus bereits veröffentlichten Texten, die sich, grob gesprochen, mit historischen Fachdiskursen befassen oder mit "Provokationen" auseinandersetzen, die Ideologen, Hobbyhistoriker und andere bis heute als das "letzte Wort" ausgegeben. Die erste Kategorie nimmt im Buch einen vergleichsweise kleinen Raum ein. Hier werden unter anderem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den "klassischen" Eurasiern und dem "neo-eurasischen" Ideologen Dugin erörtert. Ein anderer Beitrag befasst sich mit den Ursachen der fatalen Fehleinschätzung des Antisemitismus und Antikommunismus der NSDAP durch die Bolschewiki und die Komintern. Diese "Komponenten" waren, anders als es die VKP(b) marxistisch-leninistisch verstand, aus nationalsozialistischer Sicht nicht verhandelbar. Diskutiert wird auch die alte und kontroverse Frage nach der "Herrschaftslogik" im Stalinismus und Nationalsozialismus, oder anders gesprochen, nach der Verknüpfung von Rationalität und der schwer nachvollziehbaren Willkür der beiden Regime. Außerdem enthält das Buch die revidierte Fassung eines 1988 erschienenen Beitrags von Leonid Luks zum Historikerstreit.
Der Schwerpunkt liegt jedoch bei provokativen Fragen, die vor allem im publizistischen Raum verhandelt wurden. Kritisch hinterfragt werden etwa die Gleichsetzung der Februar- mit der Oktoberrevolution, die zweifelhaften Vergleiche des Stalinismus und Nationalsozialismus mit jüngeren Entwicklungen in den demokratischen Systemen der Gegenwart oder der Mythos vom angeblichen nichteuropäischen "Sonderweg" Russlands. Anhand zweier ideologischer Werke, Solženicyns "Zweihundert Jahre zusammen" und von Biebersteins ",Jüdischer Bolschewismus'", zeigt Luks, dass der Mythos von der Unterwanderung der russischen Revolution durch Juden bis heute lebendig ist. An anderer Stelle werden die angeblichen Vorteile autoritärer Systeme genauer unter die Lupe genommen. Auch eine Einführung in die russische Ideengeschichte findet ihren Platz.
Die Texte in der letzten Rubrik (Miszelle) sind, wie der Name schon sagt, "gemischter" Natur. Hier findet man neben Überlegungen zum "praktischen" Nutzen des Geschichtsstudiums kritische Anmerkungen zum Vergleich von Antisemitismus und Islamophobie bei Wolfgang Benz und sogar eine ausführliche Buchbesprechung: Die erweiterte Fassung einer kritischen Rezension von Richard Overys "Die letzten Tage".
Selbstredend teilen nicht alle Fachkollegen die Standpunkte von Leonid Luks: Dies fängt bei der Frage an, was denn nun tatsächlich "totalitär" sei, und reicht bis zur (weniger bedeutenden) Diskussion darüber, ob Čaadaev nun ein "Westler" war oder nicht. Leonid Luks verteidigt seine Position stets mit einer elaborierten Argumentation und er zählt zu denjenigen Historikern, die sich durch einen respektvollen Umgang mit ihren Kontrahenten auszeichnen. Einzig die Vielfalt der Themen und das unterschiedliche Alter der Texte haben das Potenzial, beim Lesen für Verwirrung zu sorgen: Der Rezensent musste stutzen, als es hieß, dass Ernst Nolte "vor kurzem" (90) seine umstrittenen Thesen in der FAZ (vom 6.6.1986) vorgestellt habe. Wenige Seiten zuvor war indessen die Rede von aktuellen Entwicklungen der letzten Jahre. Der Eindruck eines kompositorischen Durcheinanders währt jedoch nicht lange. Die üblichen Vorwürfe, die man in Buchform erscheinenden "Textsammlungen" so gerne macht, greifen hier zu kurz, denn es ziehen sich klar erkennbare, rote Fäden durch das gesamte Buch. Verbindend ist etwa die Vorstellung, aus der Geschichte lernen zu können: Nicht zufällig enden viele Beiträge mit der Betrachtung aktueller Ereignisse und Phänomene. Dieser Sicht der Dinge widmet Luks ein eigenes Unterkapitel. Sein Fazit: Um aus der Geschichte wirklich etwas lernen zu können, dürfe man sich nicht "mechanistischer Analogien" (212) bedienen, sondern müsse einen "kreativen Umgang" (213) mit geschichtlicher Erfahrung pflegen. Unverkennbar ist auch der aufklärerische Elan des Forschers. Russland-"Mythen" unterschiedlichen Verbreitungsgrades werden entzaubert und in ihren historischen Zusammenhang gestellt. Dabei zeigt Luks, dass bemerkenswerte Vorurteile gegenüber Osteuropa selbst unter renommierten deutschen Historikern zu finden sind (28). Ein weiterer Grund, Erkenntnisse der Osteuropa-Forschung ernst zu nehmen.
Vitalij Fastovskij