Martin Schramm: Das Deutschlandbild in der britischen Presse 1912-1919, Berlin: Akademie Verlag 2007, 598 S., ISBN 978-3-05-004422-4, EUR 69,80
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"If the Afghans had been seeking a greater Afghanistan at the expense of India, and had assassinated a Prince and Princess of Wales in the streets of Peshawar, I am not sure that the vocal part of the British nation would not have called for a march to Candahar. And I am quite certain in that case Austria would have raised no protest." (230). So meldete sich der Herausgeber des Economist, Francis Hirst, am 29. Juli 1914 im Chronicle zu Wort. Statt der von Hirst erhofften Nicht-Intervention in den Konflikt zwischen der Habsburgermonarchie und Serbien sorgte das Eingreifen Deutschlands und Russlands für die Eskalation der Julikrise. Wenige Tage später stand das Empire im Krieg gegen Deutschland. Die Hoffnungen der Interventionsgegner in der britischen Presse erwiesen sich als vergeblich. Reines Wunschdenken und von den Ereignissen auf dem Kontinent längst überholt war, was im Manchester Guardian noch am 3. August 1914 zu lesen stand: "If it where physically possible for Servia to be towed to sea and sunk there, the air of Europe would at once seem clearer." (227). Mit der Kriegserklärung an Deutschland wurde schon am folgenden Tag klar, dass Großbritanniens Platz unter den Krieg führenden, nicht unter den neutralen Mächten war. Gewiss nicht als Retter Serbiens und nur in zweiter Linie als Beschützer Belgiens, stellte sich die britische Regierung vor allem gegen die Gefahr einer deutschen Hegemonie auf dem europäischen Kontinent. Sarajevo war irrelevant geworden, wie der Cambria Daily Leader am 4. August unmissverständlich formulierte: "Whether the man who killed the Archduke of Austria was actuated by instigations from the Serbian capital or not does not matter in the least now." (374).
Rückblickend erschien der Kriegsausbruch zwischen Deutschland und Großbritannien vielen Zeitgenossen und Historikern als logische Folge längst bestehender Interessengegensätze und wechselseitiger Ressentiments, die von der veröffentlichten Meinung gespiegelt und geschürt wurden. In seiner Dissertationsschrift über das Deutschlandbild der britischen Presse stellt Martin Schramm diese Sicht infrage. Der Kaiser und sein Reich hatten in Großbritannien, so legt der Verfasser dar, keineswegs eine so schlechte Presse, wie oft angenommen. Gerade in den letzten Vorkriegsjahren habe sich das verbesserte deutsch-britische Verhältnis auch in einer tendenziell freundlicheren Berichterstattung niedergeschlagen. Der Verfasser knüpft hier an die Studie von Friedrich Kießling über die Détente-Politik der letzten Friedensjahre an. Wie Kießling im Bereich der Diplomatie, so sieht Schramm auch in der Presse deutliche Ansätze einer Entspannung der Mächtebeziehungen. Der Befund der Arbeit unterstreicht damit die von Kießling, aber auch von Holger Afflerbach mit Nachdruck in Erinnerung gerufene Tatsache, dass für die Zeitgenossen der Ausbruch eines Weltkrieges keineswegs unvermeidlich erscheinen musste.
Auch in der Julikrise sieht Schramm die britische Presse keineswegs in der Rolle des Kriegstreibers, der die zögerliche politische Elite zum Kriegseintritt gedrängt habe. Als Topos der Selbstentlastung spielte die Macht der öffentlichen Meinung in der Erinnerungsliteratur eine Rolle. Schramm demonstriert, dass diese Vorstellung unbegründet ist. Nicht nur liberale Zeitungen blieben lange auf anti-interventionistischem Kurs, sondern auch konservative Blätter. Die Pressegruppe von Baron Northcliff stellte eine Ausnahme dar. Ansonsten bedurfte es der Sorge um die von deutscher Hegemonie gefährdete nationale Sicherheit, um ein Umdenken zu bewirken. Von der erst in letzter Minute gewandelten Meinung der Presse konnte aber schon aus Zeitgründen kein nennenswerter Einfluss auf den Kriegsentschluss der Regierung ausgehen. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass die Haltung der von Schramm zitierten Presse so widersprüchlich und schwankend war, das von einer brauchbaren Alternative zum Regierungskurs nicht gesprochen werden kann. Der bloße Wunsch, nicht in den Konflikt zwischen der Habsburgermonarchie und Serbien oder dem Zarenreich und Deutschland hineingezogen zu werden, konnte die Eskalation der Krise nicht verhindern. Es stellt sich die Frage, ob die lange anhaltende Dominanz interventionsfeindlicher Stimmen die Glaubwürdigkeit der Politik Greys gegenüber Deutschland untergraben habe. Schramm geht dieser Frage nach und kommt, gestützt auf deutsche Quellen, zu dem Schluss, die Auswertung der britischen Presse habe zusammen mit den Erfahrungen der Détente-Politik und den widersprüchlichen Informationen aus der britischen Diplomatie in Berlin dazu beigetragen, von der Neutralität Großbritanniens in einem europäischen Großmachtkrieg auszugehen (275-283).
Im Kern handelt es sich bei der Untersuchung um eine Auswertung von Berichten ausgewählter Tages- und Wochenzeitungen. Zu knapp sind die einleitenden Bemerkungen über die Presselandschaft und zu sporadisch die Informationen über Journalisten, Netzwerke und Rezeption, um den Stellenwert der Zeitungstexte in der politischen Kommunikation auszuleuchten. So wird beispielsweise die Einschätzung des österreichisch-ungarischen Ultimatums an Serbien in der britischen Presse, aber auch unter Diplomaten und Politikern behandelt, ohne der Frage nachzugehen, wie sich der Informationsfluss zwischen Presse und Politik gestaltete (223-229). Es bleibt hier, wie in den meisten anderen Abschnitten, bei der Wiedergabe der Pressestimmen. Für die Zeit vor Kriegsausbruch hat dieses Verfahren trotzdem seinen Reiz, denn neben zugespitzten Kommentaren, die zum Zitieren einladen, liegt schon in der Veranschaulichung der Meinungsvielfalt eine Korrektur teleologisch verengter Vorstellungen. Ein großer Teil des Buches ist jedoch den Kriegsjahren gewidmet. Der zeitliche Rahmen ist weit, von 1912 bis Anfang 1919. Vermutlich hat bei der Festlegung des Untersuchungszeitraumes eine Rolle gespielt, dass mit der Habilitationsschrift von Dominik Geppert über deutsch-britische Pressefehden bis 1912 und der Dissertation von Thomas Wittek über das Deutschlandbild in den britischen Massenmedien nach dem Weltkrieg die Jahre bis 1912 bzw. ab 1919 erst unlängst eingehend analysiert wurden.
Grundsätzlich ergibt sich aus diesem Zuschnitt der Untersuchung das Problem, dass jeder Vergleich der Vor- und der Kriegszeit unweigerlich an den von Äpfeln mit Birnen erinnert. Die wenigen Stimmen, die sich gegen die Fortführung des Krieges bis zum Sieg und gegen die Dämonisierung des Feindes aussprachen, sind bemerkenswerte, aber eben seltene Ausnahmen. Die bereitwillige, von Patriotismus inspirierte Mitarbeit an der Propaganda und damit an der Manipulation der öffentlichen Meinung, ist im Rahmen des Ersten Weltkrieges die Norm. Dass Germanophobie oder wenigstens tief sitzendes Misstrauen gegen Deutschland und die Deutschen in der britischen Presse während des Krieges und noch bis zum Beginn der Pariser Friedenskonferenz vorherrscht, kann gleichfalls nicht überraschen. Die Zusammenstellung von Meinungsäußerungen in der Presse kann über diesen Befund aber kaum hinausgehen. Für eine genauere Analyse der Verflechtung von Presse und Politik im Krieg oder der Positionierung einzelner Zeitungen fehlt aber der Platz. Insofern ist die Methode, die für die Julikrise fruchtbar ist, auf die Kriegszeit nur mit begrenztem Nutzen anwendbar. Bei dem vom Verfasser gewählten Ansatz ist es nicht zu vermeiden, dass der zweite Teil weniger überzeugt als der Erste.
Die Auswahl der Forschungsliteratur zu den - zugegebenermaßen sehr zahlreichen - Themenfeldern, die der Verfasser anhand der Presseberichterstattung behandelt, ist manchmal etwas schwer nachvollziehbar. So wird zur Bedeutung der Bagdadbahn-Pläne für die deutsch-britischen Beziehungen Fritz Fischer, nicht aber Gregor Schöllgen konsultiert (175). Zu den deutschen Verstößen gegen das Kriegsvölkerrecht in Belgien und Teilen Frankreichs wird zwar in einer Fußnote auf John Horne und Alan Kramer hingewiesen, eine Auseinandersetzung mit deren Thesen oder der von ihr angeregten Forschungsdebatte sucht man aber vergebens (382). Das steht dem Anspruch im Weg, ausgehend von den Berichten der britischen Presse grundsätzlich über die Tragfähigkeit von Forschungsbeiträgen zu urteilen. Vor allem für die Kriegszeit macht die Untersuchung über weite Passagen den Eindruck einer Darstellung des politischen und militärischen Geschehens "im Spiegel" der Presse. Die abschließende Einschätzung, die britische Presse habe "im Ersten Weltkrieg eine in ihren Ausmaßen beispiellose antideutsche Stimmung" herbeigeführt (513), weist den Zeitungen aber die Rolle eines zentralen Akteurs zu, die mit den Mitteln der Inhaltsanalyse von Presseberichten nicht klar herausgearbeitet werden kann. Hier werden die Grenzen deutlich, die der gewählte Zugriff auf das Thema dem Erkenntnisgewinn setzt. Der Anhang zu den gut 500 Textseiten enthält u. a. Kurzporträts von 33 Zeitungen und Kurzbiografien wichtiger Protagonisten, 61 Abbildungen, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Personen- und Ortsregister.
Günther Kronenbitter