Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs (Hg.): Zeugen des Untergangs. Ego-Dokumente zur Geschichte des Ersten Weltkriegs im Österreichischen Staatsarchiv (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs), Innsbruck: StudienVerlag 2013, 275 S., ISBN 978-3-7065-5340-7, EUR 49,20
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Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg wirft schon seit Herbst 2012 seine Schatten voraus. Die Lawine an Gesamtdarstellungen zu Ursachen, Verlauf und Bedeutung des Weltkrieges wird zunächst für quellenbasierte Einzelstudien und Forschungsprojekte wenig Aufmerksamkeit übrig lassen. Irgendwann ist dann aber aller Voraussicht nach die Zeit der großen Überblickswerke zum 100. Jahrestag abgelaufen und neue Protagonisten mit neuen Themen kommen zu Wort. Damit solche Forschungsarbeiten gelingen können, ist die Erschließung von Quellen unerlässlich. Das Österreichische Staatsarchiv in Wien beherbergt eine umfassende Überlieferung militärischer Quellen zum Ersten Weltkrieg, die im deutschsprachigen Raum Ihresgleichen sucht. In seinen Beständen findet sich auch das Schriftgut der zivilen Zentralstellen der Habsburgermonarchie und der österreichischen Regierung. Für Forschungen, die besonders auf die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster historischer Akteure abzielen, hält das Österreichische Staatsarchiv eine breite Palette von Memoiren, Tagebüchern, persönlichen Korrespondenzen und Privatfotographien als Quellenmaterial bereit. Mit dem von Martin Krenn und Michael Hochedlinger erarbeiteten Inventarband werden nun erstmals diese Ego-Dokumente, wenn sie den Ersten Weltkrieg betreffen, in gebündelter Form zugänglich gemacht.
Wer jemals die Nachlässe im Österreichischen Staatsarchiv genutzt hat, weiß die Arbeitserleichterung zu schätzen, die der neue Inventarband bietet. Wo früher in einem zweistufigen Vorgang die einschlägigen Archivalien recherchiert werden mussten, genügt es jetzt, den Namen eines historischen Akteurs zu wissen, um gezielt nach Selbstzeugnissen forschen zu können. Lebensdaten und Angaben zu Funktion bzw. Rang und zur Karriere, gegebenenfalls auch Hinweise auf Werke von oder Forschungsliteratur über die aufgelisteten Verfasser erleichtern die Zuordnung. Auf den Inhalt des Nachlasses zum Ersten Weltkrieg und gegebenenfalls dessen unmittelbarer Vor- und Nachgeschichte wird verwiesen und natürlich die Archivsignatur genannt. Ohne großen Aufwand lässt sich so herausfinden, welche Bestände für welche Fragestellungen herangezogen werden könnten. Da der Band trotz der gebotenen Informationen handlich geblieben ist, kann er auch sinnvoll verwendet werden, wenn zwar der thematische Schwerpunkt festliegt, ein Überblick über die Namen der Verfasser von potentiell einschlägigen Ego-Dokumenten aber noch fehlt.
Besonders wertvoll an diesem neuen Arbeitsinstrument ist die Zusammenführung von Angaben zu Ego-Dokumenten aus der Nachlasssammlung des Kriegsarchivs und der Sonderbestände des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, aber auch der Einschluss der Nachlässe im Allgemeinen Verwaltungsarchiv. In einigen Fällen wurden zudem persönliche Tagebücher in den Archiven der Truppenkörper ausfindig gemacht (z.B. 236, 238) - also an unerwarteter Stelle und letztlich zufallsabhängig (28). Auch in Zukunft werden höchstwahrscheinlich einzelne Funde dieser Art oder Neuerwerbungen aus Nachlässen die Zahl der bekannten Bestände an Ego-Dokumenten anwachsen lassen. Insofern bleibt auch dieses Verzeichnis ein "work in progress", aber es ist ein ganz wesentlicher Schritt zur Erschließung des reichhaltigen Bestandes im Staatsarchiv.
Wie die Bearbeiter in ihrer Einleitung erläutern, ist die dem Inventar zugrundegelegte Definition eines Ego-Dokuments eingegrenzt auf bewusste und freiwillige Selbstzeugnisse. Vernehmungsakten der Militärjustiz zählen daher ebenso wenig zu den hier verzeichneten Ego-Dokumenten wie die Kriegstagebücher der Truppenkörper oder der Großteil kriegsgeschichtlicher Manuskripte. Diese Abgrenzung der Quellengruppe ist einleuchtend und aus pragmatischen Gründen unumgänglich. Auch der chronologische Zuschnitt ist überzeugend, denn neben Quellen aus der Kriegszeit finden sich die erst nach 1918 verfassten Memoiren und Korrespondenzen, sofern sie sich mit dem Weltkrieg befassen. Auch Nachlassteile, die Dokumente der Vorkriegszeit umfassen, finden gelegentlich Erwähnung. Für Erzherzog Franz Ferdinand und Alexander Brosch von Aarenau werden sogar detailliert Quellen genannt, die in erster Linie für die Vorgeschichte des Krieges relevant sind.
Gerade ein solcher Blick zurück auf die Vorkriegszeit erinnert daran, dass dieser Inventarband den Auftakt einer systematischen Erschließung von Ego-Dokumenten aus der Frühen Neuzeit und dem 19. Jahrhundert bilden sollte. Hoffnung darauf macht das von den Bearbeitern erwähnte Projekt eines "Katasters der persönlichen Schriftennachlässe und Familienarchive zur österreichischen Geschichte". Dieses Vorhaben greift thematisch-chronologisch und im Hinblick auf den Verwahrungsort viel weiter als der auf Selbstzeugnisse zum Ersten Weltkrieg in den Beständen des Österreichischen Staatsarchivs beschränkte Inventarband, der aber beweist, wie nützlich solche Erschließungshilfen für die Forschung sein können. Mögen dem vorliegenden also noch (viele) weitere vergleichbare Inventarbände folgen.
Günther Kronenbitter