Nilüfer Göle / Ludwig Ammann (Hgg.): Islam in Sicht. Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum, Bielefeld: transcript 2004, 381 S., ISBN 978-3-89942-237-5, EUR 26,80
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Islam in Sicht - wie "Land in Sicht"? In weiter Ferne am Horizont irgendwo ein Stückchen Islam in Sicht? Die Herausgeber des hier zu besprechenden Sammelbandes, Nilüfer Göle und Ludwig Ammann, möchten ein ziemlich großes Stück zeitgenössischen Islams in den Blickpunkt des Lesers bringen. Sie haben kein geringeres Ziel vor Augen, als "[...] verständlich zu machen, wie der Islam in drei ganz unterschiedlichen Öffentlichkeiten, nämlich der säkularen Türkei, im nachrevolutionären Iran und im pluralistischen Europa, Sichtbarkeit und Präsenz erlangt"(11). Hinter jeder Einzelanalyse, so fügen Göle und Ammann hinzu, sollen darüber hinaus die zentralen Fragen nach der Rolle der Religion, der Stellung der Frau und der Wahrnehmung des Körpers angemessene Berücksichtigung finden. Hervorgegangen ist der Sammelband aus einem Forschungsprojekt zu den "Mikropartikeln des Islam in verschiedenen öffentlichen Räumen", das am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen beheimatet war und in dessen Rahmen zwei Tagungen an der Boğaziçi-Universität in Istanbul stattfanden.
Der Band umfasst zwölf Aufsätze, die hauptsächlich aus der Feder von Soziologinnen und Soziologen stammen. Die Herausgeber haben die Beiträge auf insgesamt drei Kapitel verteilt: 1. Einführungen: Islam und Öffentlichkeit (drei Artikel), 2. Fallstudien: Islamische Bewegungen in der Türkei, Iran und Europa (neun Beiträge) sowie 3. Ausblicke: Religion und Anderssein (drei Aufsätze).
Den ersten Teil eröffnet Nilüfer Göle, die die Arbeitsfelder des Sammelbandes gut miteinander verknüpft. Sehr umfassend und kenntnisreich führt sie den Leser in den Wandel der islamischen Privatsphäre, bzw. Öffentlichkeit ein, unter Berücksichtigung der An- und Ablehnung der (westlichen) Moderne, die Rolle der Frau und die Schnittstellen, die sich in allen drei Gesellschaften (Türkei, Iran, Deutschland und Frankreich als Länder der islamischen Diaspora), ergeben. Christian Geulen ("Symmetrie und Politik: Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen") nähert sich daraufhin den islamischen Öffentlichkeiten anhand der von Hannah Arendt beschriebenen "Vielfalt der Perspektiven" an, die, erst und nur, "eine gemeinsame Welt" konstituieren (39). Das Verständnis von Öffentlichkeit als Ort der Versammlung und zugleich der Trennung stellt für Geulen die Grundbedingung für eine konstruktive Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden dar. Ludwig Ammann schließlich geht in seinem gelungenen diskursiven Beitrag zu "Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation" auf den historischen Wandel von Privatheit und Öffentlichkeit in Architektur, Sprache, Kleidung und Habitus ein. Alles in allem werden in dem ersten Teil, der vom Umfang her ein Drittel des Bandes einnimmt, die Ebenen der "neuen" islamischen Öffentlichkeiten überzeugend beschrieben. [1]
Die neun Fallstudien des zweiten Teils, die größtenteils junge NachwuchswissenschaftlerInnen verfasst haben, setzen ein mit M. Hakan Yavuzs Untersuchung zur "Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei". Anhand der Nur-Studienzirkel, die exemplarisch für neue Formen und Räume einer kollektiven Auseinandersetzung mit dem islamischen Glauben sind, beschreibt der Autor anschaulich die Entwicklung bildungsorientierter Stiftungen, die durch die Vermittlung von islamischen Werten, Verhaltensweisen und Denkmustern überaus identitätstiftend wirken und eigene Eliten hervorbringen. Es folgen Uğur Kömeçoğlus detaillierte Betrachtungen über die Wiederaneignung des "Caféhaus" durch junge muslimische Frauen und Männer, die dort eine den islamischen moralischen Werten entsprechende neue Art des Kontakts etablieren.
Kenan Çayır widmet sich im Anschluss einigen türkisch-islamischen Romanen. Seine soziologische Analyse der islamischen Literatur rekapituliert die Entwicklungen von ideologisch didaktischen Texten, hin zu einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit den eigenen heterogenen Erfahrungen als "moderne MuslimInnen". In dem folgenden Aufsatz über die historischen Hindernisse für eine Öffentlichkeit in Iran analysiert Farhad Khosrokhavar die paradoxen Ergebnisse der islamischen Revolution und beschreibt die häufig nur über Umwege zu etablierende neue Öffentlichkeit. Die Identität und die Kämpfe muslimischer Frauen in der iranischen Gesellschaft stehen im Mittelpunkt von Elham Gheytanchis Studie. Plausibel kann sie eine "neue muslimische Weiblichkeit" ausmachen, deren Protagonistinnen in Solidarität zueinander agieren und über Medien wie Film und Zeitschriften in großer Vielfalt die Schaffung eines neuen Öffentlichkeitsraumes vorantreiben.
Mahnaz Shirali beschreibt, wie iranische Jugendliche der täglichen Unterdrückung durch eine offensive Selbstbehauptung, die zu einem Bruch mit der sie umgebenden Glaubensgemeinschaft führt, performativ entgehen, woraufhin Nicola Tietze anschaulich die neuen "Formen der Religiosität junger männlicher Muslime in Deutschland und Frankreich" vorstellt. Sie deutet die im Vordergrund stehenden Ausdrucksformen muslimischer Religiosität vor allem "[...] als Strategien, eine prekäre sozioökonomische Situation zu überwinden" (239).
Moussa Khedimellah beschäftigt sich mit jungen Predigern der Tabligh-Bewegung in Frankreich. Die Organisation rekrutiert ihre Imame vor allem aus Randgruppen maghrebinischer Einwanderer der zweiten und dritten Generation, die bereits die französische Staatsbürgerschaft besitzen. Zuletzt zeigt Sigrid Nökel die große Heterogenität unter muslimischen Frauen mit (und ohne) Kopftuch auf. In erster Linie beschreibt und analysiert sie die Aneignung und Umwertung des Kopftuchs durch junge Musliminnen.
Der zweite Teil ergänzt die theoretischen Einführungen des ersten Parts und bietet durch die vielfältigen Fallstudien einen erhellenden Blick auf die verschiedenen Facetten der islamischen Öffentlichkeiten. Ob sich jemand für alle Artikel interessieren wird, darf angesichts ihrer inhaltlichen und räumlichen Disparität allerdings bezweifelt werden. Fragwürdig ist, dass mit Europa, das neben der Türkei und Iran als Zielregion der empirischen Untersuchungen genannt wird, lediglich Frankreich und Deutschland Berücksichtigung finden. Deutlich wird aber in allen Aufsätzen, wie performativ und trotz aller vorprogrammierten Konflikte durchaus erfolgreich die Aneignung und Etablierung von neuen öffentlichen Räumen vonstatten geht.
Die im dritten Teil des Bandes versammelten Aufsätzen sollen, so die Herausgeber, den Band abschließen und die theoretischen Texte aus dem ersten sowie die Fallstudien des zweiten Hauptkapitels mit der Zukunft in Berührung bringen. Dies gelingt nicht wirklich. Shmuel N. Eisenstadt möchte auf nur zwölf Seiten einen historischen Abriss über die "Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften" bieten. Er tastet die islamische Geschichte von frühislamischen Stammesgesellschaften bis zu modernen Staaten nach Konstitutionen von Öffentlichkeit ab. Dies tut er leider ohne jegliche Zeit- oder Ortsangaben, was den Artikel für Laien ohne Zeittafeln und lokales historisches Wissen unlesbar macht. Dass Öffentlichkeit ein westlich geprägter und in seiner Bedeutung vereinnahmter Begriff ist und in islamischen Gesellschaften - wenn auch manchmal mit anderen Vorzeichen - durchaus existiert, ist dem aufmerksamen Leser an dieser Stelle bereits klar geworden.
Besser macht es Simonetta Tabboni. In ihrem äußerst lesenswerten Aufsatz geht sie der Frage nach, warum eine "verkörperte Alterität im öffentlichen Raum" zu größerer Irritation der herrschenden Mehrheitskultur führt als "andersartige" Gedanken, Worte oder Praktiken. Sie beschreibt stringent die "[...] Regeln, die der Andersartigkeit (des Fremden) für den öffentlichen Auftritt von Körpern durch die Identität (der Einheimischen) auferlegt werden" (327), und die somit der Konstruiertheit von Mehrheits- bzw. Normalidentität und Alterität dienen. Charles Taylor schließlich macht unter dem Titel "Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne" eine zügige Zeitreise von frühreligiösen Gruppen und deren rituellen Handlungen zu "einer spezifisch modernen Dynamik, die zu 'religiösem' Hass und Gewalt führen kann, jedoch mit Religion als Frömmigkeit fast nichts zu tun hat" (376). Er plädiert für die Differenzierung von politischen und religiösen Motiven und Motivationen und schlussfolgert: "Das beste Gegenmittel gegen diese korrumpierende Inanspruchnahme der Religion für sehr weltliche Zwecke könnte in der Tat ein echter Glaube sein" (377). Eine unter Umständen wahre, aber vielleicht doch etwas allzu einfach daherkommende Schlussbemerkung.
Formal zeichnet sich der vorgelegte Band durch gute Lesbarkeit, eine gelungene Komposition der Aufsätze und eine sinnvolle Struktur aus. Lesen und studieren sollte ihn, wer sich einen Überblick über die Vielfalt der Öffentlichkeiten und Öffentlichkeitsdiskurse von Muslimen in der Türkei, in Iran, Deutschland und Frankreich verschaffen möchte. Die drei einleitenden Beiträge bieten einen guten Zugang zu den zu vermittelnden Inhalten. Der Band zeigt darüber hinaus, dass es einen Unterschied bzw. einen Gegensatz zwischen Islam einerseits und Moderne andererseits im 21. Jahrhundert längst nicht mehr gibt.
Anmerkung:
[1] Nilüfer Göle bezeichnet als "neuen" Islamismus die nach der Iranischen Revolution entstandenen Gruppen und Netzwerke, die im Gegensatz zu den vorrevolutionären Fundamentalisten reformorientierte Ideen verfolgen. Die "neuen" Praktiken dieser gesellschaftlichen Gruppen, die die Hybridität "zwischen Islam und Moderne" leben, sollen untersucht werden (37, 42).
Barış Ceyhan