Christa Schulze-Senger / Wilfried Hansmann: Der Clarenaltar im Kölner Dom. Dokumentation der Untersuchung, Konservierung und Restaurierung (= Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege; 64), Worms: Wernersche Verlagsanstalt 2005, 262 S., ISBN 978-3-88462-211-7, EUR 36,00
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Ein wichtiges Buch - eines freilich, das nur eine sehr begrenzte Anzahl von Lesern erreichen wird - dieses Fazit sei gleich vorweg genommen. Der so genannte Clarenaltar im Kölner Dom ist einige Jahre vor 1350 zu datieren (zur Analyse der dendrochronologischen Fakten 71-72). Er ist ein herausragendes Exemplum unter den deutschen Schnitzretabeln des 14. Jahrhunderts, also unter den 'Prototypen' dieser Art von Altaraufsatz, und er kann mit einer ganzen Reihe von Besonderheiten aufwarten: Es ist das früheste bekannte Retabel, in dessen Aufbau ein Sakramentstabernakel fest integriert wurde; es ist der älteste aller aus dem Mittelalter erhaltenen geschnitzten (auch gemalten) Altaraufsätze mit einem doppelten Flügelpaar; es verfügt neben qualitätvollen Schnitzfiguren und Reliquienbüsten im Schrein über Malereien an den Flügeln (aus zwei Ausstattungs-Kampagnen, aus der Fertigungszeit des Retabels und aus den Jahren um 1400 stammend - zur besagten Datierung vor allem 39ff. und 92), die zum Besten gehören, was die deutsche Kunst jener Zeit aufzuweisen hat. Auf Grund seiner Komplexität, die geradezu exemplarisch die handwerklich und künstlerisch hoch entwickelten Techniken Kölner Werkstätten kurz vor der Mitte des 14. Jahrhunderts repräsentieren, wirft das Clarenretabel besonders eindringlich die Fragen nach funktionalen und liturgiegeschichtlichen Zusammenhängen auf, Fragen, die zuallererst die Klärung der authentischen Situierung des Retabels voraussetzen: auf der Nonnenempore oder auf dem Hochalter des Kölner Klarenklosters, aus dem das wertvolle Stück im 19. Jahrhundert in den Dom verbracht wurde?
Diskussionen dieser Art, die den kunsthistorisch interessierten Leser vermutlich am meisten interessieren, werden im Buch von Schulze-Senger und Hansmann zwar kurz referiert, aber nicht fortgesetzt. Letzteres ist eben nicht das Anliegen der Monografie. Sie will - ich zitiere aus dem Vorwort - keine "umfassende Neubearbeitung des Clarenaltars ersetzen." Es geht ihr vielmehr einzig und allein um die Dokumentation der seit 1971 begonnenen technischen Untersuchung, Konservierung und Restaurierung des Retabels, eine Veröffentlichung, die das Denkmalschutzgesetz von Nordrhein-Westfalen grundsätzlich einfordert. Schulze-Senger, Hauptautorin des Buches, fungierte 1982 bis 2003 als Leiterin der Restaurierungswerkstatt I, die anlässlich des Clarenaltars mit der langwierigsten und spektakulärsten, einem einzelnen Kunstwerk gewidmeten Maßnahme des Rheinischen Amtes für Denkmalpflege betraut war. Die Verfasserin hat nun, im Ruhestand, die Zeit gefunden, die jeweiligen technologischen Erkenntnisse in einer bewundernswerten Synopse zusammenzufassen, die, soweit ich das beurteilen kann, als restauratorisch-konservatorischer Zustandsbericht wohl keine Wünsche offen lässt. Schulze-Senger unterstreicht (zum Beispiel 231) bei all dem das oberste Gebot, das sie und die übrigen Verantwortlichen leitete, nämlich das Retabel "unter Einbeziehung mancher späterer Ergänzungen als mittelalterliches gefasstes Gesamtwerk in Erscheinung treten zu lassen", also keinesfalls in die Erstfassung zurückzuversetzen.
Der Leser, der weder über einschlägiges Vorwissen verfügt, noch die Fachterminologie beherrscht, wird sich oft genug hilflos fühlen bei der Lektüre: vor jenen speziellen Methoden, Faktendarlegungen, schriftlichen und fotografisch-dokumentierenden Bestandsaufnahmen, die so gar nichts zu tun haben mit dem publikumswirksamen Bild von Kunstgeschichte - abgesehen wohl von jenen wenigen Passagen, die auch den Nichtfachmann geradezu ungläubig aufhorchen lassen! Wenn man beispielsweise liest, dass noch 1969 zahlreiche Abblätterungen in der Malschicht der Flügelgemälde von einem überforderten Restaurator (dessen Name im Buch genannt ist, hier aber taktvoll verschwiegen sei) mit handelsüblichem Tesa-Film "gesichert" und in rüder Weise angedrückt wurden! Dass 1974 auf Wunsch des Kulturdezernats der Stadt Köln und entgegen der ausdrücklichen Warnung des Landeskonservators die Leinwandflügel des Clarenretabels im Kölner Dom ausgestellt wurden, um kulturpolitische Publikumsnähe zu zelebrieren - zahlreiche weitere Abblätterungen in der Farbsubstanz waren die Folge! Diese beiden Schadensmeldungen mögen genügen. Sie belegen, mit welcher Fahrlässigkeit man vor noch gar nicht allzu lange zurückliegender Zeit dem einen oder anderen Retabel des 14. Jahrhunderts (eben nicht nur dem Clarenretabel!) begegnete, galten solche "Vorläufer" doch im Vergleich zu den "Klassikern" des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, den Werken eines Riemenschneider, Stoß, Leinberger, Brüggemann usw., als relativ unausgegoren. Entsprechend "provinziell" behandelte man einige von ihnen.
Ich möchte noch einmal auf die kunsthistorischen Fragen zurückkommen, die sich - sei es direkt von Wilfried Hansmann ins Spiel gebracht, sei es in anderen Passagen mitschwingend - im Buch zu Worte melden. Ich meine zum Beispiel die Möglichkeit (22), dass ursprünglich eine geschnitzte thronende Madonna (im Kölner Museum Schnütgen) in der oberen Tabernakelnische des Retabels gestanden haben könnte. Die weitaus meisten Schnitzaltäre des 14. Jahrhunderts verfügten übrigens über ein Madonnenbildwerk im Schrein oder ein umfangreiches mariologisches Programm [1]; ich meine weiterhin die Tatsache, dass die Architekturformen des Clarenretabels bis in Details hinein denen des Kölner Doms entsprechen (229), was man nicht nur als nahe liegende stilistische Koinzidenz interpretieren, was man vielmehr auch, und meines Erachtens sogar höchstwahrscheinlich, als symbolische Qualität werten darf; ich erinnere ferner an die wegen der jetzt gesicherten Frühdatierung des Retabels notwendig gewordene Revision der Behauptung, die geschnitzten Apostelstatuetten im oberen Register des Retabelschreins würden exemplarisch den Kölner Figurenstil um 1360 bezeugen (232); und ich verweise abschließend auf die Einordnung der so bedeutenden Malereien an den Flügeln (232-233): Einerseits "zitiert" die Kunst des Kölner Veronika-Meisters, dem die Übermalungen der Erstfassung kurz nach 1400 zu verdanken sind, aus der französischen und niederländischen Buchmalerei jener Jahre (vor allem im Umfeld des Jacquemart de Hesdin), wie sie unter König Charles V und dem Herzog von Berry florierte, andererseits zeichnen sich Einflüsse der führenden "frankoflämischen" Buchmalerei auch für die Erstfassung ab; Hans Peter Hilger verweist zu Recht auf eine annähernd zeitgleiche Parallele, das kurz nach 1353 entstandene Stundenbuch der Yolande von Flandern in der Pariser Bibliothèque Nationale aus der Jean Pucelle-Nachfolge (233). Hier versprechen weitere Forschungen noch viele wichtige Aufschlüsse.
Der rezensierte Band deutet, wie gesagt, derartige Fragen nur an, weil er andere Ziele verfolgt. Das ändert indes nichts daran, dass er Ausgangsbasis für jede künftige - auch kunsthistorische - Bearbeitung des Clarenretabels sein muss. Dass die Publikation für Restauratoren, Konservatoren, Denkmalpfleger eine unerlässliche Lektüre darstellt, steht sowieso nicht zur Debatte!
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu Norbert Wolf: Deutsche Schnitzretabel des 14. Jahrhunderts, Berlin 2002.
Norbert Wolf