Heinrich Lackmann (Hg.): Katholische Reform im Niederstift Münster. Die Akten der Generalvikare Johannes Hartmann und Petrus Nicolartius über ihre Visitationen im Niederstift Münster in den Jahren 1613 bis 1631/32 (= Westfalia Sacra; Bd. 14), Münster: Aschendorff 2004, 437 S., ISBN 978-3-402-03871-0, EUR 58,00
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Nach wie vor stellen die reichhaltigen archivalischen Bestände, die das kirchliche Visitationswesen der Frühneuzeit hervorbrachte, über Kirchen- und Landesgeschichte hinaus auch für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Rechtsgeschichte, Demographie, Mentalitäts-, Alltags- und Kulturgeschichte ein ergiebiges Forschungsfeld dar. Besondere Bedeutung kommt seit etwa drei Jahrzehnten der Beschäftigung mit dem frühneuzeitlichen Visitationswesen im Zusammenhang mit der von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling entwickelten Prozesskategorie der Konfessionalisierung zu, die von einer untrennbaren Verzahnung von Konfessionsbildung und frühmoderner Staatswerdung ausgeht. Tatsächlich deuten auch Visitationsakten auf eine deutlich wachsende Staatstätigkeit hin, da in zunehmenden Maße religiöse Gegenstände mit Fragen landesherrlicher Kompetenzen verquickt wurden und zugleich eine enge Wechselwirkung zwischen verstärkter Visitationspraxis und einem Ausbau der administrativen Organisation zu beobachten ist.
Der hohe Quellenwert frühneuzeitlicher Visitationsakten spielt insbesondere auch im Zusammenhang mit der Erforschung geistlicher Herrschaftsgebilde eine große Rolle, vermögen doch beispielsweise die bischöflichen Instruktionen, mit denen die Visitatoren ausgestattet wurden, einen Einblick in das Selbstverständnis einer zugleich geistlichen und weltlichen Herrschaft zu geben. In den Kontext der lange vernachlässigten Forschung zur nordwestdeutschen Germania Sacra ist eine jetzt von Heinrich Lackmann vorgelegte Quellenedition einzuordnen. In dieser verwertet der Herausgeber Visitationsakten, die im Rahmen durchgeführter Kirchenvisitationen des Niederstiftes Münster zwischen 1613 und 1632 entstanden. Wie in vielen anderen geistlichen Territorien konnte das Visitationswesen als wirksames Instrument katholischer Reform auch im Fürstbistum Münster erst im 17. Jahrhundert dauerhaft etabliert werden. Zurückzuführen ist dies zum einen darauf, dass mehrere Erz- und Fürstbischöfe Nordwestdeutschlands in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stark mit dem Protestantismus sympathisierten, zum anderen in dieser Zeit reformatorische Ideen auch in den Städten und unter dem niederen Adel am Niederrhein und in Westfalen immer mehr Rückhalt fanden. Ein Wandel setzte erst mit Ferdinand von Bayern ein, seit 1612 Erzbischof von Köln und Bischof von Münster und Hildesheim, ab 1618 auch Bischof von Paderborn. Dieser ging in seinen Territorien unverzüglich dazu über, die tridentinischen Konzilsbeschlüsse zur Durchsetzung zu bringen.
Das Niederstift Münster, der nördliche und große Gebiete des Emslandes umfassende Teil des Fürstbistums, stellte insofern einen Sonderfall dar, als es lediglich in landesherrlicher Hinsicht der Gewalt des Bischofs von Münster unterstand, kirchenrechtlich jedoch Teil der Diözese Osnabrück war. Bezeichnend dafür, wie sehr Visitationen von den Herrschenden gleichermaßen als politisches wie auch geistliches Instrument gedeutet wurden, ist, dass Ferdinand nun auf seine Stellung als Landesherr des Fürstbistums Münster verwies, um in seinem nördlichen Landesteil aktiv werden zu können. Zu diesem Zweck erteilte er in seiner Eigenschaft als Erzbischof von Köln und damit auch Metropolit der Kölner Kirchenprovinz, zu der auch das Bistum Osnabrück gehörte, dem Generalvikar des Bistums Münster die Befugnis, im Niederstift zu visitieren. Eine weitere Besonderheit bestand darin, dass die Visitationen im münsterischen Niederstift, anders als die im Oberstift, weniger auf die Normierung des katholischen Gemeindewesens abzielten, sondern hier überhaupt erst die Bekehrung der mehrheitlich lutherisch gesinnten Bevölkerung zum Katholizismus in die Wege geleitet werden musste. Hinsichtlich des Vorgehens Ferdinands sind damit politische und religiöse Motivation kaum voneinander zu trennen, drohte aus Sicht des Fürstbischofs ein protestantisches Niederstift doch erst recht auf Dauer in den Bannkreis benachbarter nichtkatholischer Mächte zu geraten.
Der Quellenedition voran stellt Heinrich Lackmann einen straff gegliederten und dennoch sehr informativen Einleitungsteil. In diesem gibt der Bearbeiter einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Visitationswesens im Bistum Münster, um sich anschließend den Protagonisten der im Niederstift zwischen 1613 und 1632 angeordneten Visitationen zuzuwenden. Dabei handelte es sich um die Generalvikare Johannes Hartmann (ab 1613) und Petrus Nicolartius (ab 1621), beide Theologen, die im Niederstift in Auseinandersetzung mit Archidiakonen - in diesem Fall Osnabrücker Domherren -, der dort mit besonderen Rechten versehenen Reichsabtei Corvey sowie lokalen Instanzen, dafür aber mit tatkräftiger Unterstützung des Jesuitenordens visitierten. Abgeschlossen wird die Einleitung mit einer quellenkritischen Diskussion der edierten Visitationsakten, die als Handschriftenkonvolut im Bistumsarchiv Münster lagern, etwa 560 Paginas umfassen und vom Herausgeber zunächst in eine chronologische Ordnung gebracht wurden. Die Editionsarbeit gestaltete sich hier besonders schwierig, da das zugrunde liegende Quellenmaterial zum größten Teil nicht in Reinschrift vorliegt. Gerade an dieser Stelle wird damit deutlich, dass Lackmann mit der von ihm herausgegeben Quellensammlung eine bemerkenswerte Leistung erbracht hat. Zugleich ist hervorzuheben, dass er auf eine nähere Inhaltsanalyse der von ihm bearbeiteten Quellen verzichtet, also eine reine Quellenedition bietet. Eine Auswertung der Akten durch den Herausgeber selbst hätte voraussichtlich auch nur geringen Bezug zum aktuellen Forschungsdiskurs gehabt, hält Lackmann doch beispielsweise, in Abgrenzung zum Begriff der 'Konfessionalisierung', ausdrücklich an der Bezeichnung 'Gegenreformation' fest (vergleiche hierzu S. 9, Anmerkung 15).
Mit Blick auf die Quellen selbst ist wichtig, dass der größte Teil den im Anschluss an eine Visitation angelegten Visitationsberichten zuzuordnen ist. Vorakten, beispielsweise bischöfliche Anweisungen oder auch Fragekataloge, und Visitationsprotokolle finden sich in der Edition demgegenüber seltener. Eher schwierig dürfte es daher werden, von den hier präsentierten Akten auf die Organisation der damaligen Visitationen und die Selbstsicht ihrer Initiatoren zu schließen. Auf der anderen Seite spiegeln gerade die genannten Berichte die charakteristische Themenvielfalt frühneuzeitlicher Visitationen wider, finden doch zahlreiche Facetten des religiösen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen und Rechtslebens Erwähnung, so dass dem Leser ein detaillierter Einblick in die Lebenswelt der visitierten Menschen geboten wird. Bedauerlich ist indes, dass die Arbeit ein Orts- und Personen-, allerdings kein Sachregister enthält. So aufwändig die Erstellung eines solchen auch gewesen wäre, hätte es doch in Anbetracht der verschiedenartigen Zugänge, mit denen sich Historiker Visitationsakten nähern, Sinn gemacht, einen zumindest grob strukturierten Sachindex zur Verfügung zu stellen. Zweifelsohne hätte sich damit der Kreis der Leser deutlich erweitert. Von diesem Wermutstropfen abgesehen aber bleibt der Eindruck einer verdienstvollen Quellenedition. Es bleibt abzuwarten, welche Erkenntnisse die Forschung, und hier insbesondere die Sozial- und Landesgeschichte, mit Hilfe dieser Arbeitsgrundlage zu gewinnen vermag.
Andreas Müller