Thomas Weller: Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der frühneuzeitlichen Stadt: Leipzig 1500-1800 (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, IX + 470 S., ISBN 978-3-534-19602-9, EUR 74,90
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Thomas Weller hat seine Dissertation im Münsteraner Sonderforschungsbereich "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution" verfasst und stellt sie in den Rahmen der 'neuen Kulturgeschichte'. Zur Erklärung sozialer Ungleichheit in der frühneuzeitlichen Gesellschaft bedient er sich des aus der Sprechakttheorie entliehenen Begriffs der Performanz (49). Dieser besagt, dass die Abbildung hierarchischer Beziehungen stets zugleich deren Herstellung bewirkte. Die Eingangshypothese lautet daher, "dass die soziale Stellung des Einzelnen immer wieder aufs Neue in der sozialen Praxis geltend gemacht und behauptet werden musste". (8) Im Rahmen eines "praxeologischen Zugriffs" (8) werden nicht allein zeitgenössische Ordnungsvorstellungen, sondern auch deren praktischer Vollzug und insbesondere die dabei auftretenden Konflikte untersucht. Dabei stützt sich die Untersuchung auf den Schriftwechsel der streitenden Parteien, Rechtsgutachten, Eingaben und Protestschreiben an die lokalen und landesherrlichen Behörden sowie die entsprechenden Resolutionen.
Die Studie konzentriert sich auf die aus der Hofforschung bekannte Bedeutung des Zeremoniells für die soziale Rangordnung in der Frühen Neuzeit und fragt nach deren Ausprägung in der städtisch-bürgerlichen Welt. Den lokalen Rahmen bildet die kursächsische Handels-, Gewerbe- und Universitätsstadt Leipzig, in der nahezu alle relevanten sozialen Gruppen aufeinandertrafen. Dass sich Rangkonflikte auch in der städtischen Gesellschaft auf allen Ebenen beobachten lassen, davon zeugen nicht nur die ausführlich dokumentierten Auseinandersetzungen um den zeremoniellen Vorrang bei unterschiedlichen Anlässen, sondern auch der Streit um Kirchenstühle und um Verstöße gegen die städtischen und landesherrlichen Kleiderordnungen. Die Leipziger Kleider- und Aufwandsordnungen sowie die hier schon früh erschienenen Stadt-Adressbücher werden zunächst nach zeitgenössischen Begriffen von sozialem Rang und gesellschaftlicher Ordnung befragt. Sichtbar wird hierbei die anhaltende Resistenz der in unterschiedliche, sich zum Teil überlagernde Rechtskreise gegliederten städtischen Gesellschaft gegenüber zeitgenössischen Forderungen nach möglichst umfassenden Rangordnungen. Der Kontrast zwischen Norm und Praxis wird mit Blick auf die gelehrten Diskurse um Ius Praecedentiae und Zeremonialwissenschaft verdeutlicht. Insofern wird die allgemeine Untertanengesellschaft, wie sie vor allem August der Starke für das Kurfürstentum Sachsen dekretierte, einmal mehr als Fiktion entlarvt.
Vor allem der Rat wehrte sich dauerhaft und erfolgreich gegen die Geltendmachung externer, vom kurfürstlichen Hof abhängiger Rangkriterien, wie am Beispiel der Ratswahlen und des Ratswechsels sowie der Huldigungen für den neuen Landesherrn verdeutlicht wird. Die Aufwertung der vom Landesherrn verliehenen Titel und Ämter führte aber auch in Leipzig um die Mitte des 17. Jahrhunderts zu einem Anwachsen der Konflikte um den zeremoniellen Vorrang, erschwerte doch die korporative Ordnung der städtischen Gesellschaft die Eingliederung kurfürstlicher Amtsträger in das Ranggefüge. Der ausdrückliche Verzicht auf eine Quantifizierung der verwickelten Auseinandersetzungen ist gut begründet, auch wenn die Frage offen bleibt, weshalb einmal die Angehörigen der Leipziger Universität [1] (265), ein andermal die kurfürstlichen Beamten (313) als der am häufigsten in Präzedenzkonflikte verwickelte Personenkreis benannt werden. Der scheinbar widersprüchliche Befund verweist auf den eigentlich bemerkenswerteren Sachverhalt, dass es sich bei den kurfürstlichen Bedienten überwiegend nicht um von außerhalb kommende Personen handelte, sondern die landesherrlichen Titel und Ämter von Leipziger Bürgern oder Universitätsangehörigen erworben und im symbolischen Kampf um Rang und Platz eingesetzt wurden.
Für das 17. und 18. Jahrhundert konstatiert der Verfasser daher ein spannungsreiches Nebeneinander zweier konkurrierender Ordnungssysteme, ohne dass das Rangdenken als solches an Wirksamkeit eingebüßt hätte. Weder die obrigkeitlichen Regulierungsversuche noch die zunehmende Verrechtlichung der notfalls 'mit gewaldt' (274) ausgetragenen Rangkonflikte führten zu einem Rückgang der Streitigkeiten. Beides habe sogar Konflikte gewissermaßen noch gefördert, weil die fürstliche Intervention eine konkurrierende Ordnung und die Verrechtlichung neue Berufungsinstanzen ins Spiel brachten.
Einen radikalen Bruch mit den überkommenen Formen sozialer Repräsentation sieht der Verfasser immerhin im Ausschluss der Öffentlichkeit beim Begräbniszeremoniell im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Mit dem Übergang zum Nachtbegräbnis sei an die Stelle der Repräsentation der Stadt als korporativ verfasstes Ganzes die auf soziale Exklusivität bedachte Repräsentation einer kleinen Elite getreten, "die sich offenbar zunehmend weniger über ihre Stellung innerhalb der Stadt definierte, sondern sich aus der Stadt mit ihren korporativen Bezügen herauszulösen begann" (252). Unklar bleibt allerdings, welche Motive und sozialen Geltungsansprüche dabei zum Tragen kamen. Das Augenmerk bleibt durchgängig auf die performativen Aspekte des Geschehens gerichtet, so dass die häufig wiederholte Eingangshypothese am Ende zugleich als Ertrag der Untersuchung erscheint: "Gesellschaftliche Ordnung und hierarchische Beziehungen, dies lässt sich als wesentliches Ergebnis festhalten, waren auch in einer vergleichsweise statischen Gesellschaft wie der des Ancien Régime nie eindeutig festgelegt, sondern ergaben sich stets aufs Neue aus den wechselseitig erhobenen Geltungsansprüchen der Akteure." (384) So ergibt sich insgesamt das Bild, dass die frühneuzeitliche Ständegesellschaft zwar dank fortwährender Rangdispute weniger statisch gewesen sei als häufig angenommen, zugleich aber "alternative Handlungsoptionen lange Zeit nicht realisierbar" gewesen seien (396).
Der letztere Befund dürfte freilich nicht zuletzt daher rühren, dass der Verfasser seinerseits das 'Theatrum Praecedentiae' über immerhin drei Jahrhunderte konsequent als die einzig maßgebliche Bühne der städtischen Gesellschaft betrachtet. Dass gerade in Leipzig schon früh neue, auf bürgerliche Gleichheit zielende Muster sozialer Integration und Abgrenzung zumindest geprobt wurden, bleibt im Dunkeln. [2] Die Entwicklung neuer Formen aufgeklärt-bürgerlicher Geselligkeit wird zwar beiläufig erwähnt, doch ist die "'Entzauberung' des Zeremoniells" (392) nicht mehr Gegenstand der Untersuchung. Abschließend werden systemtheoretische Konzepte herangezogen, die den Schluss nahe legen, dass gesamtgesellschaftlich relevante Rangunterschiede in der durch autonome Teilsysteme gekennzeichneten modernen Gesellschaft keine Rolle mehr spielen konnten. Ein wenig zu kurz kommt dabei die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschung, die gerade im Übergang zum 19. Jahrhundert der Stadt als Schauplatz der Integration eine wesentliche Rolle für die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und sozialen Praktiken des Bürgertums zuerkennt. Wissen ist freilich immer Stückwerk, und mit dieser Studie werden unsere Kenntnisse von der Ordnung der Gesellschaft in der frühneuzeitlichen Stadt - und deren Tücken - um ein ansehnliches Stück erweitert.
Anmerkungen:
[1] Zu Universitätsangehörigen entstand in demselben Sonderforschungsbereich die Studie von Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006.
[2] Vgl. Thorsten Maentel: Stadtbürgerliche Elite im Spannungsfeld zwischen bürgerlicher Selbständigkeit und monarchisch-bürokratischer Herrschaft. Leipziger Profile 1750 bis 1850, in: Anja Victorine Hartmann/ Małgorzata Morawiec/ Peter Voss (Hgg.): Eliten um 1800. Erfahrungshorizonte, Verhaltensweisen, Handlungsmöglichkeiten, Mainz 2000, 269-297.
Thorsten Maentel