Theo Steiner: Duchamps Experiment. Zwischen Wissenschaft und Kunst, München: Wilhelm Fink 2006, 320 S., ISBN 978-3-7705-4303-8, EUR 39,90
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Nach Linda D. Hendersons umfassender Untersuchung über die Rolle von Wissenschaft und Technologie bei Duchamp mag eine weitere Publikation zum Verhältnis des Künstlers zur Naturwissenschaft und Ingenieurskunst zunächst verwundern. [1] Doch es ist eine andere Ausrichtung, die Theo Steiners Buch - eine erweiterte Fassung seiner Dissertation am Grazer Institut für Philosophie - verfolgt. Ihm geht es nicht so sehr darum, möglichst umfassend nachzuweisen, worin mögliche Anregungen aus und Analogien zu den Wissenschaften in den Arbeiten Duchamps liegen mögen. Vielmehr versucht er, den Experiment-Begriff Marcel Duchamps (1887-1968) möglichst genau zu fassen. Das heißt in diesem Fall, Duchamps Umgang mit dem Modell "Experiment" auf seine wissenschaftsanalogen und -kritischen Anteile hin zu befragen.
Mit einem betont historischen Anspruch grenzt sich Steiner gegen nachträgliche Vereinnahmungen Duchamps für den Postmoderne-Diskurs ab, wie er sie bei Jean-François Lyotard und Wolfgang Welsch diagnostiziert (vgl. 24). Doch Steiner kritisiert auch die höchst verdienstvollen kunsthistorischen Arbeiten von Herbert Molderings und von Dieter Daniels. [2] Molderings betone zu einseitig den Aspekt des Wissenschaftskritischen. Bei Daniels geht es um zwei Einzelaspekte. Hier widerspricht Steiner der Einstufung der "Grünen Schachtel" (1934) als eines Kommentars zum sogenannten "Großen Glas" (1915-1923, Philadelphia Museum of Art). Vielmehr sei die aufwändige Edition der Duchamp'schen Arbeitsnotizen und Skizzen, die den Experimentcharakter seiner Arbeit besonders unterstreichen, als genuiner Bestandteil einer vielschichtigen Gesamtarbeit aufzufassen, was schon aufgrund des Titels nahegelegt werde, den die Schachtel mit dem "Großen Glas" teilt ("La Mariée mise à nu par ses Célibataire, même"). Außerdem, bemängelt Steiner, unterschätze Daniels die Bedeutung des Natur- und Ingenieurswissenschaftlichen für das Œuvre Duchamps gegenüber dem Geisteswissenschaftlichen.
"Duchamp hat die Disziplinengrenze innerhalb der Wissenschaft überschritten und Elemente aus Mechanik, Biologie und Metereologie mit solchen aus Chemie und Molekularphysik verknüpft. Und er hat auch die herkömmliche Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst systematisch - genauer gesagt in methodischer Absicht - ignoriert." (121) Dabei gehe es Duchamp nicht allein darum, die Produktionsmodelle der Kunst zu erweitern, sondern die konventionellen Zuschreibungen an beide der zwei Bereiche, Kunst und Wissenschaft, generell in Frage zu stellen: die Zuschreibung des Erfindens an die Kunst und die des Entdeckens an die Wissenschaft (217). Damit erweise sich Duchamp als kritischer Begleiter der Moderne (nicht als Prophet oder gar erster Repräsentant der Postmoderne; vgl. 257). Keinesfalls sei das Œuvre Duchamps jedoch - das die zentrale Kritik an Arthur C. Danto - auf den Aspekt der Theoriebildung zu reduzieren. Wie Georges Didi-Huberman betont auch Steiner die Prägnanz und Unumgänglichkeit des Material- und Objektcharakters der Arbeiten Duchamps. [3] Dieser werde schon deshalb von manchen Autoren verfehlt oder falsch beurteilt, weil sie ihr Augenmerk auf nur jeweils einen einzelnen Aspekt des Œuvres beschränken. In jedem Fall müssen, so Steiner ganz zu Recht, die ready mades und das "Große Glas" gleichermaßen berücksichtigt werden.
So klar und verständlich sich das Buch insgesamt präsentiert; die Art und Weise der Argumentation erscheint dem philosophisch weniger bewanderten Leser bisweilen befremdlich. Immer wieder werden einzelne Begriffe an das untersuchte Phänomen herangetragen; der jeweilige Begriff wird auf der Grundlage von Handbuchdefinitionen oder ausführlicherer wissenschaftlicher Literatur differenziert; und schließlich wird erwogen, welche der unterschiedenen Bedeutungsebenen dem Duchamp'schen Œuvre wohl am nächsten kommt. Wie zwingend und letztlich auch wie treffend die Auswahl an Erklärungsmustern ist, bleibt im Verborgenen. Auffällt, dass sich nicht nur die verarbeitete kunsthistorische Literatur auf eine eher knappe Auswahl des Bestehenden beschränkt (besonders verwundert hier das Fehlen der Werkmonografie von Arturo Schwarz aus dem Jahre 1997); auch in philosophischen Problemstellungen bleibt fraglich, warum zum Beispiel zu einem für die gesamte Argumentation so zentralen Aspekt wie dem der Objekthaftigkeit eine so grundlegende Position wie Richard Wollheims Studie Objekte der Kunst, die 1982 auch auf deutsch erschienen ist, ganz unberücksichtigt bleibt.
Wie dem auch sei, es bleibt ein Verdienst der Arbeit, zu verdeutlichen, wie leicht eine Untersuchung zu Duchamp sich, je nach Fragestellung, stringent und folgerichtig in eine bestimmte Richtung entwickeln und dennoch weite und entscheidende Teile des Deutungspotentials außer Acht lassen kann. Wie kläglich stünde allerdings die Duchamp-Forschung da, wenn nicht einzelne Kunsthistoriker immer wieder in der Auseinandersetzung mit einzelnen Objekten den Experiment-Charakter im Œuvre Duchamps kritisch in konkreten wissenschaftshistorischen Zusammenhängen diskutierten, wie - zeitgleich zu Theo Steiner - es soeben Herbert Molderings getan hat! [4] Wer dabei die Gefahr fürchtet, nicht zu einem ausgewogenen Urteil über das Ganze zu gelangen, zielt womöglich von vornherein an den Arbeiten selbst vorbei.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Linda D. Henderson: Duchamp in Context. Science and Technology in the Large Glass and Related Works, Princeton/NJ 1998.
[2] Vgl. Herbert Molderings: Marcel Duchamp. Parawissenschaft, das Ephemere und der Skeptizismus, 3. Aufl., Düsseldorf 1997 und Dieter Daniels: Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Moderne, Köln 1992.
[3] Vgl. Georges Didi-Hubermann: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999.
[4] Herbert Molderings: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps "3 Kunststopf-Normalmaße", München / Berlin 2006.
Ulrich Rehm