Andrea von Hülsen-Esch / Hans Körner / Guido Reuter (Hgg.): Bilderzählungen - Zeitlichkeit im Bild (= Europäische Geschichtsdarstellungen; Bd. 4), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, IX + 239 S., 98 Abb., ISBN 978-3-412-10703-1, EUR 39,90
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Es sei die Sache der Poesie in der Zeit, die der bildenden Kunst hingegen im Raum zu wirken. Mit dieser schlichten Unterscheidung revolutionierte Lessing in seinem Laokoon die Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. Nicht mehr die Analogie zwischen Text- und Bildproduktion stand nunmehr im Zentrum des Interesses, sondern die wesentlichen Unterschiede zwischen Dichtung und Malerei. Die so erreichte, differenziertere Beurteilung der Malerei stand allerdings im Dienst einer ästhetischen Norm, die manche Missverständnisse gegenüber der älteren Kunst mit sich brachte. Die Fixierung auf den einen, "fruchtbaren" Augenblick, der im Bild zur Anwendung kommen sollte, verband sich mit dem Eindruck, von Bilderzählung im eigentlichen Sinne könne man - nach der klassischen Antike - überhaupt erst für die Zeit ab der Renaissance sprechen, und auch das mit Einschränkungen: Selbst Raffael musste sich nunmehr als unzeitgemäß tadeln lassen, wo er simultan oder sequenziell erzählt.
Schon 1895, als die Bilder gerade begannen Laufen zu lernen, hat Franz Wickhoff diesem hartnäckigen Irrweg abendländischer Kulturgeschichtsschreibung eindringlich widersprochen. [1] Er versuchte nachzuweisen, dass Bilder seit frühester Zeit unterschiedliche Modi der Zeitdarstellung aufweisen, die phasenweise einander ablösten. Auch untersuchte er darüber hinaus bereits die Frage, inwieweit unterschiedliche Erzählweisen den Zeitaufwand der Bildlektüre vorprägen. Zugleich zeigte Wickhoff, dass ausgerechnet das (vermeintlich mittelalterliche) sequenzielle Bilderzählen gerade in der Renaissance zu breitester Entfaltung kam und erst im 17. Jahrhundert seine Vorherrschaft einzubüßen begann. Die Notwendigkeit, diese Erkenntnisse immer wieder neu ins Licht zu rücken, bricht offenbar nicht ab. Dass die Beiträge zur "Zeitlichkeit im Bild" im Tagungsband der Düsseldorfer Universität unkommentiert erst mit der Frührenaissance einsetzen, ist deshalb etwas irritierend.
In jedem Fall bestätigt der Tagungsband einen anderen historischen Wendepunkt als außerordentlich markant für die Entwicklung der Bilderzählung: den um 1800. Dies zeigt etwa Heinrich Theissing, der schon 1987 mit einer vielzitierten Monografie über die Zeit im Bild hervortrat. [2] Hier kehrt er scheinbar zum "fruchtbaren Augenblick" zurück, allerdings um zu zeigen, wie sich dieser in den furchtbaren Augenblick verkehrt - die panische Zeit: Francisco Goya nutzte das klassische Modell des Historienbilds als Ausgangspunkt, um die Erzählung gewissermaßen von innen auszuhöhlen - "in der Zeitleere des vertoteten und deshalb stillgestellten Augenblicks" (136). Chronos, der greise Gott der Zeit, der eines seiner Kinder frisst, das wohl am meisten Schrecken erregende Gemälde aus der Serie der Schwarzen Bilder, hat die Zerstörung des Lebens durch die Zeit nicht allein zum Sujet. Theissing zeigt auf, mit welchen Mitteln Goya das Bild zum Erlebnis der Erstarrung im Entsetzen vor der sinnlosen Vernichtung des Seins und der Erzeugung von Nichts gestaltet - und damit zu einem radikalen Anti-Laokoon: die verzerrte Grimasse als Register der Seelen- und damit Geschichtslosigkeit; das Aufzehren alles Zeitlichen durch den gezielten Rückgriff auf die Groteske; die Raumlosigkeit; und nicht zuletzt: die Erstarrung in übertriebener Bewegtheit, die weder Zeitfluss noch Ruhe verheißt, sondern den Sprung aus dem Zeitfluss heraus. In gleicher Weise ist die Erscheinung der zentralen, die Arme in die Höhe reckenden Gestalt in der "Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808" "ekstatisch" (135) - nicht in einem dramatischen oder mystischen Sinn, sondern als anschauliche Erscheinung der aus der Zeit herausgerissenen Erstarrung angesichts des Todes. Gerade dies macht die Modernität Goyas aus. Selbst die auf den Mustern der Herrscherapotheose basierenden Gemälde Menzels unterlaufen etwa fünfzig Jahre später die klassischen Ansprüche an das Historienbild: "Momentaneisierung" (142) nennt Hubertus Kohle die Tendenz, dem zusammengedrängten Darstellungsaugenblick die Transzendierung zu verweigern.
Die "Desastres" Goyas finden noch in Andy Warhols "Desasters" ihre Entsprechung, allerdings unter anderen Vorzeichen. Und diese markieren einen weiteren wesentlichen Wendepunkt: die Auseinandersetzung mit den von den zeitgenössischen Medien generierten und massenhaft verbreiteten Bildern. Große Teile gerade der jüngsten ästhetischen Produktion sind Originale auf Zeit, sie existieren in der Dauer ihrer Aktualisierung auf Grundlage technischer Equipments. Damit ist die Lessing'sche Polarisierung endgültig obsolet: Visuelle Kunst wirkt gerade in der Zeit, zwingt den Betrachtern ihre Eigenzeit auf. Saskia Reither weist darauf hin, dass damit nicht nur die Funktion des Museums radikal in Frage gestellt wird, sondern die herrschende Kulturtechnik des Bewahrens und Sammelns überhaupt. Gabriele Genge zeigt an einem Fallbeispiel, wie in der zeitgenössischen Kunst unterschiedliche Traditionen so miteinander konfrontiert werden, dass auf die Konstruiertheit von Zeitlichkeitsmodellen durch die Kunst und deren Bewertung durch die Kunstgeschichte hingewiesen wird: etwa indem das Klischee vom Europäer als einem Wesen, das historischen Prozessen unterworfen ist, mit dem Modell vom Vertreter ehemals kolonialisierter Kulturen als einem vermeintlich zeitlosen (und deshalb authentischen!) Wesen kontrastiert wird. Timo Skrandies vertritt die These, das die Bilder der medialen Kriegsberichtserstattung in den letzten Jahren zunehmend Geschichte nicht dokumentieren oder darstellen, sondern machen - das heißt: Geschichte seien. Und mehr noch: Mit den wiederholbaren Bildern der Überwachungskamera, die zeigen, wie Mohammed Atta die Sicherheitsschleuse durchschreitet, sei das gespenstische und traumatisierende Phänomen erreicht, dass der unauffällige Passagier die bekannte Schreckenstat des 11. September - auf Dauer - immer noch vor sich habe.
Große Teile des Bandes sind der Bilderzählung der frühen Neuzeit gewidmet. Tanja Michalski argumentiert, dass ausgerechnet die scheinbar narrationsferne niederländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts bestens geeignet sei, die künstlerische Rhetorik von Zeitlichkeit und damit die Codes eines so genannten Realismus aufzuspüren. Die scheinbar auf einen einmaligen Augenblick fixierbaren Wolkenformationen, deren Gestalt tatsächlich weit von den beobachtbaren Naturphänomenen entfernt sei, mache die dargestellten Landschaftsräume zu erlebbaren Zeit-Räumen. Hans Körner erläutert die Judith und Holofernes-Bilder Botticellis einmal nicht als konkrete politische Allegorien, sondern im Rahmen einer Kultur, die sich am ritterlich-minnesanglichen Kult von Schönheit und Liebe orientiert. Dabei macht er unter Rückgriff auf Wickhoff deutlich, dass gerade die narrativen Modi als Bedeutungsträger fungieren, deren Einsatz Spannungen zwischen Rückverweisen und Aktualisierungen wirksam werden lässt.
Mit Guido Reuters Beitrag rückt auch die unter dem Zeitlichkeitsaspekt vernachlässigte Skulptur ins Gesichtsfeld. Wenn hier allerdings die Aspekte der Binnenmodellierung, der Materialeigenschaft und Oberflächenstruktur sowie der räumlichen Situierung unter den gemeinsamen Begriff der strukturellen Zeit gefasst werden, scheint damit zunächst nicht mehr als zweierlei erreicht: ein verallgemeinernder Terminus für altbekannte ästhetische Wirkungselemente und damit eine zusammenfassende Spekulationsbasis für das letztlich nur schwer fassbare Verhalten des Betrachterblicks.
Angesichts des beachtlich breiten Spektrums an aufgeworfenen Fragen wünschte man sich eine Einleitung oder Zusammenfassung, die den Stellenwert der Beiträge innerhalb des Forschungsfeldes Bilderzählung verdeutlicht.
Anmerkungen:
[1] Wilhelm von Hartel / Franz Wickhoff: Die Wiener Genesis (= Beilage zum Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses, Bd. 15/16), Wien 1895; Ndr.: Franz Wickhoff: Römische Kunst (Die Wiener Genesis), Die Schriften Franz Wickhoffs, hg. von Max Dvoràk, Bd. 3, Berlin 1912.
[2] Heinrich Theissing: Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987.
Ulrich Rehm