Pierre Vernus: Art, luxe & industrie. Bianchini Férier, un siècle des soieries Lyonnaises 1888-1992, Grenoble: Presses universitaires de Grenoble 2006, 419 S., 85 tabl., 30 ill., ISBN 978-2-7061-1391-8, EUR 35,00
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Die Blütezeit der Lyoneser Seidenfabrikation lag bereits weit zurück, und die wirtschaftliche Lage dieses Gewerbes war nicht eben viel versprechend, als sich im Jahre 1888 drei Franzosen zusammenschlossen, um ebendort eine Seidenweberei zu gründen. Das Unternehmen von François Atuyer, der sehr früh wieder aus dem Betrieb ausschied, Charles Bianchini und François Férier war trotz der widrigen Umstände bereits mit Anbeginn sehr erfolgreich. Der über einhundertjährigen Firmengeschichte dieses Unternehmens, seiner Gründung, seinem anfänglichen Erfolg und schließlich seinem Niedergang, hat Pierre Vernus, außerordentlicher Professor der Universität Lumière-Lyon, eine umfangreiche Studie gewidmet.
Die Ansiedlung dieser Weberei im für die Seidenproduktion traditionsträchtigen Lyon schien trotz der Krise im Textilsektor, insbesondere der Seidenfabrikation, ein Erfolgsgarant. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges war das anfänglich noch recht kleine Unternehmen zu einem international tätigen Industrie- und Handelskonsortium herangewachsen, das bereits Büros in Paris, London, Brüssel und New York eröffnet hatte.
Pierre Vernus gliedert die Geschichte dieses Unternehmens chronologisch in insgesamt vier Teilbereiche: Gründung und Expansion (1888-1914), Reifezeit (1914-1929), Krisenzeiten und Prüfungen (1929-1945) und zuletzt Verfall und Niedergang (1945-1992). Es gelingt dem Autor, überzeugend die Einflussbereiche des Unternehmens während seiner frühen Entwicklungsphase heraus zu arbeiten. Zum einen nahm Bianchini/Férier eine wichtige Position unter den Lyoneser Seidenproduzenten ein, zum anderen war es maßgeblich an der Neuorientierung der französischen Haute Couture beteiligt. Den anfänglichen Erfolg des Betriebes führt der Autor vor allem auf die Weitsicht Bianchinis zurück. Der Unternehmer hatte als einer der ersten erkannt, wie entscheidend der Beitrag der zeitgenössischen Künstler am Erfolg der Modekollektionen und der damit verbundenen Stoffproduktion war. Für das Lyoneser Unternehmen war die logische Konsequenz die Beschäftigung namhafter Künstler, die vornehmlich für die Entwürfe der Stoffmuster verantwortlich zeichneten. Französische Modeschöpfer, die sich selbst als Künstler verstanden, griffen schließlich auf dieses Erfolgsrezept zurück. Paul Poiret z. B. verteilte Modealben an seine Kundinnen, in denen von Künstlern wie Paul Iribe oder Georges Lepape angefertigte Illustrationen seiner aktuellen Modelle zu finden waren.
Der Rückgriff auf das Lyoneser Know-how im Bereich der Seidenweberei, die enge Verbindung zur Haute Couture und zur gehobenen Pariser Gesellschaft sowie die Nähe zum künstlerischen Milieu legten die Basis für den Erfolg der Seidenweberei Bianchini/Férier. Vernus bezeichnet insbesondere das Engagement von Raoul Dufy (1877-1953), der seit 1910 mit Paul Poiret zusammenarbeitete und zwischen 1912 und 1928 tausende von Entwürfen für das Unternehmen fertigte, als "coup de génie" (61).
Es ist ein weiterer Verdienst des Autors, dass er neben dem Interesse Bianchini/Fériers am künstlerisch wertvollen Stoffentwurf auch das fundierte Verständnis der Firmeninhaber für das wirtschaftliche Umfeld ihres Unternehmens heraus arbeitet. Nur in Kombination mit einem guten Management konnten die kreativen Entwürfe und technisch überzeugenden Stoffe den Betrieb zum Erfolg führen. Garant hierfür waren die drei Firmengründer selbst. Die Stärken Atuyers lagen im technischen Bereich, Férier bewies sein Können im Bereich der Geschäftsführung und Bianchini war der kommerziellen Seite zugetan.
Überzeugend legt Vernus auch die Erschütterungen dar, die nach der anfänglichen Expansionsphase Bianchini/Férier in den 20er- und dann in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts zusetzten. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 machte sich in diesem der Luxusindustrie zugetanen Unternehmen besonders im Bereich des Exports bemerkbar. Die Ausfuhr von Stoffen verzeichnete Einbußen um mehr als Dreiviertel des üblichen Umsatzes. Der nationale Markt konnte diesen Rückgang nicht kompensieren. Auch unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges hatte das Unternehmen zu leiden, paradoxerweise jedoch weitaus weniger als unter der vorangegangenen Weltwirtschaftskrise.
Schließlich beleuchtet Vernus die Gründe für den mehr und mehr schwindenden Einfluss der Lyoneser Seidenfabrikation. Als einen Aspekt führt er die konservative Einstellung der Unternehmensführung an. So innovativ der anfängliche Coup war, bekannte Künstler mit der Anfertigung von Stoffentwürfen zu beauftragen, so sehr fehlte es dem Unternehmen letztlich an Mut weiter auf die Beschäftigung von Künstlern oder von modernen Stilbüros zu setzen. Eine innovative Entwicklung im Bereich der Produktion neuer Garne wurde zwar kurzzeitig über die Tochterfirma Gamma abgedeckt. Diese wurde jedoch frühzeitig wieder verkauft. Der Datenfluss innerhalb der Firma verschlechterte sich schließlich zusehends und Marketingstrategien fehlten bereits vor der Unternehmenskrise von 1974. Als erschwerender Aspekt kam weiterhin die schlechte Vergabe von industriellen Unteraufträgen hinzu. Der Anspruch des Unternehmens, dem Bereich des Luxushandwerks zuzugehören, konnte kaum mehr erfüllt werden. Die logische Konsequenz trat schließlich im Jahr 1992 ein, als Bianchini/Férier von der Weberei Baumann übernommen wurde. Ein Teil des Firmenarchivs, die so genannten "Grands Livres" mit mehr als 25.000 Textilmustern, konnte 1999 für die Musées des Tissus et des Arts Décoratifs in Lyon angekauft werden.
Die künstlerischen Aspekte, die das Unternehmen maßgeblich zum Erfolg geführt haben, würde man sich in dieser Publikation bisweilen etwas intensiver behandelt wünschen. Der einzige unter den Abbildungen zu findende Stoffentwurf aus dem großen Repertoire dieser Seidenweberei ziert das Cover des Buches. Dieser Umstand ist allerdings verzeihlich, führt man sich vor Augen, dass Vernus den Anspruch erhebt, mit seiner Arbeit einen unternehmensgeschichtlichen Beitrag zu leisten. Die Handhabung des Buches wird durch eine übersichtliche Inhaltsgliederung mit detaillierten Unterkapiteln erleichtert, zudem ist es durch ein Personenverzeichnis sehr gut erschlossen. Bedauerlich ist, dass gerade eine Publikation zur Geschichte eines Unternehmens, das dem Luxushandwerk und der Haute Couture verpflichtet ist, mit einem nur wenig ansprechenden Layout aufwartet. Doch mindert dieser Umstand in keiner Weise den inhaltlichen Verdienst der Arbeit.
Ohne Zweifel wird diese Publikation das Interesse der Wissenschaftler wecken, und es bleibt abzuwarten, ob ähnliche Studien folgen, die den bisher in der Forschung vernachlässigten wirtschaftlichen Aspekt der Seidenproduktion weiter beleuchten und Aufschluss über den Erfolg dieses Gewerbes liefern.
Katja Schmitz-von Ledebur