Johannes Gerhardt: Der Erste Vereinigte Landtag in Preußen von 1847. Untersuchungen zu einer ständischen Körperschaft im Vorfeld der Revolution von 1848/49 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 33), Berlin: Duncker & Humblot 2007, 306 S., ISBN 978-3-428-12379-7, EUR 87,80
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Dieser Hamburger Dissertation gelingt es, den Forschungsstand in zwei Bereichen zu erweitern: die Geschichte des Parlamentarismus und des Konservatismus in Preußen vor 1848. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Preußen parlamentsgeschichtlich ein Rückstandsgebiet. Da es kein gesamtstaatliches Parlament gab, fehlte die zentrale politische Bühne, auf der in anderen Staaten Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen politische Erfahrung sammeln und sich organisieren konnten. Als Friedrich Wilhelm IV. den Vereinigten Landtag (VL) einberief, mied er jeden Anschein, Preußen für den konstitutionellen Parlamentarismus öffnen zu wollen. Konzipiert als eine Körperschaft in ständischer Tradition, vereinte der VL die 617 Abgeordneten der acht preußischen Provinziallandtage, gegliedert in die Herren- und die Dreiständekurie. Letztere bestand aus Ritterschaft, Städten und Landgemeinden. Diese gesamtstaatliche Vereinigung der Provinziallandtage sollte nur bei Bedarf zusammentreten, einberufen vom König; ein Recht auf periodische Berufung besaß sie nicht. Wie aus diesem "monarchischen Projekt" (David E. Barclay) wider Willen - nicht nur des Königs, sondern auch vieler Deputierter - eine "Schule des Parlamentarismus" (267) wurde, analysiert Gerhardt präzise.
Im ersten Teil zeigt der Autor, dass der VL entgegen seines Auftrags sofort die Verfassungsfrage aufnahm, die seit dem uneingelösten Versprechen von 1810 schwelte. Der größte Teil der Studie untersucht jedoch, wie der VL gearbeitet hat und zu einem Ort wurde, an dem sich ein organisiertes parlamentarisches Leben entwickeln konnte. Gerhardt versteht den VL als eine Versammlung von Konservativen. Er plädiert für ein "situationsspezifisches Konservatismusverständnis" (21), nach dem damals als konservativ zu bezeichnen sei, wer in der preußischen Verfassungsdiskussion der 1840er Jahre eine "geschichtlich-organische Problemsicht" (25) vertreten habe. Nach dieser Definition gab es im VL ausschließlich Konservative, die er in die drei Hauptgruppen reaktionär, status-quo-orientiert und reformkonservativ unterteilt. Diese in der Forschung gängige Gliederung fächert er weiter auf, indem er in der großen reformkonservativen Gruppe des VL weitere drei Gruppen unterscheidet: pragmatisch-ständisch, historisch-ständisch und neuständisch (in letzterer benennt er als eine Untergruppe die Abgeordneten des juste-milieu).
Der Autor ist bestrebt, Personen und Ideen, die andere dem vormärzlichen Liberalismus zurechnen, als konservativ einzustufen. Um das plausibel zu machen, wäre jedoch eine vergleichende Analyse nötig, die über die Mitglieder des VL hinausblickt. Dass er dies nicht macht, schwächt zwar seine Aussagen zum frühen Konservatismus und Liberalismus, beeinträchtigt aber nicht die Bedeutung dieser Studie für die Frühgeschichte des deutschen Parlamentarismus. Sie hängt nicht davon ab, ob man der Definition von konservativ zustimmt oder nicht.
Gerhardt untersucht erstmals detailliert die Arbeit der 17 Abteilungen, die im VL eingerichtet wurden, davon neun in der Dreiständekurie. Die Zusammensetzung dieser Abteilungen, die alle Beschlüsse des VL vorbereiteten, nutzte die Regierung, um die Einflussmöglichkeiten von oppositionellen Abgeordneten zu begrenzen. Gerhardt spricht deshalb von einer "hierarchisch-autoritären Struktur" (140 u.ö.), zu der die Abteilungen ebenso gehörten wie die Landtagsmarschälle, Direktoren und Referenten. Dennoch entwickelte der VL aus sich heraus eine Dynamik, die zu parlamentarischen Arbeitsformen führte. Diese Prozesse, die in Fraktionsbildungen mündeten, untersucht Gerhardt auf unterschiedlichen Ebenen.
Die informellen Bindungen, die notwendig waren, um einer Landtagsorganisation, die auf Verhinderung von Gruppenbildung angelegt war, Ansätze zu Fraktionsbildungen abzuringen, begannen schon vor dem Zusammentritt des VL. Hier gingen, wie Gerhardt auf einem breiten Quellenfundament zeigt, die rheinischen Abgeordneten aus dem Stand der Städte voran. Sie korrespondierten miteinander, trafen sich und diskutierten unterschiedliche Strategien, die bis zum Landtagsboykott reichten. Sie nahmen auch Kontakt mit den Deputierten der Landgemeinden auf, und einige wenige knüpften auch Verbindungen über die Provinzgrenze hinweg.
Schon in diesen Vorgesprächen traten die Wortführer hervor, denen sich die Hinterbänkler im VL anschlossen. Vielfach fiel die Entscheidung erst während der Plenardebatte. In ihr sprachen die Deputierten anders als in den Abteilungen: Hier dominierte die sachlich-bürokratische "Sprache der Exekutive" (190), im Plenum hingegen die "Sprache des Staatsmanns" (189), die den großen Augenblick inszenierte, in dem die Frage, ob die Ostbahnanleihe bewilligt werden sollte oder nicht, zu einer "Schicksalsentscheidung" (190) dramatisiert wurde.
Einige Abgeordnete sprachen dezidiert von Parteibildungen Gleichgesinnter. Sie blieben keineswegs durchweg informell. Es kam zu einer Verdichtung von Kontakten, die zu organisationsähnlichen Bindungen führten, gruppiert um eine kleine Zahl von Abgeordneten, die nicht nur im Plenum, sondern auch hinter der Parlamentsbühne den Ton angaben. Um diese Position erreichen zu können, mussten einige Bedingungen erfüllt sein. Wer wirken wollte, musste informiert und gut vorbereitet sein. In Einzelfällen leisteten sich Abgeordnete einen Sekretär, vor allem aber mussten sie in der Lage sein, geräumige, zentral gelegene Wohnungen für Treffen Gleichgesinnter zur Verfügung zu stellen. Parteibindung ließ sich am Quartier erkennen, in dem man wohnte und an den Orten, an denen man sich traf. Wer als Wortführer hervortreten wollte, musste im Plenum wortmächtig auftreten. Wer pointiert sprach, zog Grenzlinien zu anderen Positionen. Polarisieren zu können, war wichtig.
Auch der Hof suchte Bindungen zu schaffen, indem er Einladungen zu prestigeträchtigen Empfängen nutzte, um Abgeordnete einzubeziehen oder auszugrenzen. Auch die Eröffnungsfeierlichkeiten am 11. und 12. April 1847 waren symbolpolitisch gezielt gestaltet: Der Macht des Monarchen standen die nach Provinzen geordneten Abgeordneten gegenüber. Die Sitzordnung im VL war darauf ebenfalls darauf ausgerichtet, keine politischen Gruppierungen sichtbar zu machen.
In den Prozessen, die parlamentarische Praxis einübten, gingen die städtischen Abgeordneten aus der Rheinprovinz voran, während diejenigen, die der reaktionären und der status-quo-orientierten Gruppe angehörten, am wenigsten damit zurecht kamen. Gerhardt sieht darin innerkonservative Auseinandersetzungen, in denen die Reformkonservativen sich überlegen zeigten. Daran - so seine überzeugende Deutung - scheiterte das "monarchische Projekt". Die Parteigänger des Monarchen, einschließlich der Minister, vermochten es nicht, sich in den Plenardebatten zu behaupten. Kabinettsminister Thile schrieb deshalb am 15. August 1847 seinem König, künftig müsse er die Minister nach neuen Fähigkeiten auswählen (276). Dies demonstriert zu haben, war nicht wenig für einen Landtag, der nur wenig mehr als zwei Monate getagt hat. Wie es zu dieser Entwicklung kam, analysiert Gerhardt eindrucksvoll.
Dieter Langewiesche