John Breuilly (ed.): The Oxford Handbook of the History of Nationalism, Oxford: Oxford University Press 2013, XLI + 775 S., 10 Karten, ISBN 978-0-19-920919-4, GBP 95,00
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Der Herausgeber, einer der besten Kenner im Themenfeld Nationalismus, das kein einzelner mehr zu überblicken vermag, hat 34 Experten gewonnen, die in 36 Beiträgen einen globalen Zugang bieten, den man in dieser Form nirgendwo sonst erhält. In seiner Einführung erläutert Breuilly, was Leser erwarten können und was nicht. Es geht um die Geschichte des Nationalismus, nicht um die Geschichte von Nationen und Nationalstaaten. Den Autoren wurde keine Nationalismusdefinition vorgegeben, und sie sollten keine enzyklopädischen Überblicke bieten, sondern eigene Schwerpunkte setzen. Im Zentrum stehen Politik und Macht, Ideologien und Einstellungen (sentiments), Bewegungen und Organisationen. Diese Form von Nationalismus wird der "Moderne" zugerechnet, wenngleich einige Autoren weiter zurückgreifen. Für Zentralasien haben sich keine Autoren finden lassen - nur in Theodore R. Weeks Beitrag zum separatistischen Nationalismus in Russland und der Sowjetunion finden sich Hinweise - und auch die geplanten Beiträge zum "settler" und zum "diaspora nationalism" ließen sich nicht verwirklichen. Einige Beiträge enthalten aber Bemerkungen dazu. Die Konzeption zielt auf "state-led nationalism" (12), was, wie Breuilly selbst betont, zu einer Erfolgsgeschichte tendiert, weil "'vanished' nationalisms" (7) unberücksichtigt bleiben. Etliche Beiträge sprechen dies jedoch an, und Montserrat Guibernau informiert mit Blick auf Katalonien, Schottland und Quebec über "Nationalism without States". Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika werden nicht behandelt, da sich dort keine "nationalist opposition to the homeland state" (12) formierte. Der Buren-Nationalismus fällt wie der der Zulu oder Asante unter die fehlgeschlagenen Nationalismen.
Für eine globale Geschichte des Nationalismus eine geeignete Gliederung zu finden ist schwierig. Breuilly hat sich für vier zeitliche und thematische Blöcke entschieden. Das Hauptgewicht (über 600 Seiten) liegt auf den ersten beiden, die sich - jeweils untergliedert in Kapitel zu "Ideas and Sentiments" sowie "Politics and Power" - dem Weg zum Nationalstaat und der Zeit ab der Staatsgründung widmen. Es versteht sich, dass innerhalb dieser Chronologie die zeitlichen Schnitte unterschiedlich gesetzt werden müssen. Auch wenn die Anstöße ganz überwiegend von Europa ausgingen - dies heben Don H. Doyle und Eric van Young auch für Nord- und Lateinamerika hervor -, so handelte es sich doch stets um komplexe Prozesse wechselseitiger Beeinflussungen. Sie in den Vordergrund zu rücken, ohne das Machtgefälle und die Verschiebungen in ihm zu überblenden, gehört zu den Verdiensten dieses Werkes.
Die Autoren der vier ersten Beiträge, die sich allgemein mit der ideellen Formierung von Nationalismus befassen, wählen höchst unterschiedliche Zugänge. Peter Burke fragt nach der Rolle der Sprache für die Entstehung von Nationalbewusstsein im frühneuzeitlichen Europa, während Erica Benner sich auf "philosophically informed texts" (37) stützt und ausgehend von Rousseau und Herder bis ins späte 19. Jahrhundert führt. Einiges nimmt John Hutchinson in seinem Beitrag "Cultural Nationalism" auf, während Andreas Eckert einen anderen Blick auf den Nationalismus öffnet, indem er in der Vielfalt der "Anti-Western Doctrines" seit der Mitte des 19. Jahrhunderts jeweils eigene Wege sichtbar macht.
Der anschließende Teil, der "Politics and Power" in den Wegen zum Nationalstaat untersucht, ist nach Regionen gegliedert, die in sich vergleichend betrachtet werden. Neben den schon erwähnten Beiträgen zu Nord- und Lateinamerika sowie zu Russland und der Sowjetunion stehen Studien zur Ära der Französischen Revolution und Napoleons (Michael Rowe) sowie zu Mittel- und Südeuropa (Breuilly) und zur Habsburgermonarchie (Miroslav Hroch). Das Osmanische Reich teilen sich Hroch (europäische Gebiete) und Aviel Roshwald, der die Entwicklungen bis in die Zeit nach dem II. Weltkrieg betrachtet. Es folgen Beiträge zu Indien (Joya Chatterji), Südostasien (David Henley), Ostasien (Rana Mitter) und zwei zu Afrika (Bruce J. Bermann und John M. Londsdale).
Der Themenblock "Nationalism in a World of Nation States" umfasst neben Regionalstudien einen Beitrag von Yves Déloye zu dem, was Michael Billig "Banal Nationalism" im Alltag genannt hat, und mehrere Artikel zur Bedeutung der internationalen Politik. So diskutiert John Darwin die Zusammenhänge zwischen Imperialismus und Nationalismus - den I. Weltkrieg lastet er dem Nationalismus an, weil er die Politik einer "competitive coexistence" (352), zu der die europäischen Imperialmächte im 19. Jahrhundert gefunden hatte, beendete -, während James Mayall die Rolle des internationalen Rechts in den konfliktreichen Beziehungen zwischen demokratischer Selbstbestimmung und staatlicher Souveränität untersucht und Richard Caplan nach den Formen internationaler Interventionen in nationale Konfliktzonen fragt.
Die Regionalstudien setzen zeitlich und thematisch sehr unterschiedliche Schwerpunkte. Bruce J. Berman analysiert "Nationalism in Post-Colonial Africa" vor allem darauf, welche globalen Entwicklungen die Staatlichkeit schwächten und zur "ethnicization of nationalism" (373) beitrugen. Er nennt den Nationalstaat in Afrika "a continuously unfinished project, a contingent outcome of the universalized social forces of globalized modernity and its own distinctive cultural diversity, mediated by the idiosyncrasies of the colonial experience of Western domination." (372) Wie Berman immer wieder Vergleiche zu Europa herstellt und gemeinsame Probleme betont, zielt auch Fred Halliday darauf, den "Nationalism in the Arab World since 1945" durch den Vergleich mit dem Nationalismus in Europa zu 'normalisieren': anders, nicht einzigartig. In anderer Weise nutzt Nicola Miller Europa als Kontrastfolie: das europäische Modell einer homogenen Nationalkultur sei für Lateinamerika "manifestly unworkable" (385). In der Anerkennung von Differenz statt Verlangen nach Homogenität sieht sie ein Hauptergebnis der Entwicklungen in Lateinamerika, das genereller Anerkennung bedürfe. Gegen die Vorstellung von "uniqueness" (467) wendet sich auch Aaron William Moore in seiner Analyse des Nationalismus in China, Japan und Korea seit dem Ende des II. Weltkrieges. Für China betont er die Widersprüche zwischen dem multiethnischen Staat und der Vorstellung einer "unified 'Chinese' nation" (459) und für Japan die Spannungen zwischen den älteren Vorstellungen und einem 'normative, globalized nationalism' (464), der entmilitarisiert und ökonomisch ausgerichtet sei. Korea als "the real 'outnation' of post-war East Asian nationalism" (466) bezieht er nur skizzenhaft ein. Für die Staaten Südostasiens betont John T. Sidel die starken Unterschiede in den nationalen Bewegungen und Konzeptionen, wobei er den staatlichen Institutionen, der Ökonomie und den internationalen Beziehungen eine weitaus höhere Bedeutung zuschreibt als den Prozessen kultureller Identitätsbildung, die der wissenschaftliche mainstream vorrangig betrachte. Und schließlich kontrastiert Christophe Jaffrelot in seinem Beitrag zu Südasien, "a real laboratory for the students of nation-building and nationalism" (495), vor allem die Konzepte der Dezentralisierung in Indien und der Zentralisierung in Pakistan. Der Beitrag zu den USA von Susan-Mary Grant lässt sich schwer mit den anderen vergleichen, da er nicht über das 19. Jahrhundert hinausgeht. Sie konzentriert sich auf das Gesellschaftskonzept der 'universal Yankee nation' (407), das im Bürgerkrieg zu siegen schien, jedoch noch lange innerstaatlich und im imperialen Ausgriff "blighted by the ethnic reality" (409) blieb.
Den Nationalismus in Europa untersuchen in dem Themenblock "A World of Nation States" drei Beiträge. Oliver Zimmer richtet den Blick für den Zeitraum 1918 bis 1945 auf zwei Bereiche von zentraler Bedeutung für die Entwicklung nach dem I. Weltkrieg: erstens, auf den Gegensatz zwischen revisionistischem und irredentistischem "homeland nationalism" der Verliererstaaten und den "nationalizing nationalisms" (431) jener Nachfolgerstaaten der Habsburgermonarchie, die auf der Seite der Sieger standen, und zweitens, auf die Bedeutung des Nationalismus für die Mobilisierungskraft faschistischer Bewegungen in Europa. Sabine Rutar fragt nach den Gründen für die Persistenz des Nationalen in Südosteuropa seit 1970 und nach den Problemen, die sich daraus künftig ergeben können. Zudem gibt es einen Artikel von Roger Eatwell zu "Facism and Racism". Die Bedeutung von Rasse und Rassismus für nationale Bewegungen und ihre Nationskonstruktionen wird in zahlreichen Beiträgen mehr oder weniger ausführlich thematisiert. Eine übergreifende Darstellung bietet der Band nicht. Er wird abgeschlossen durch zwei kürzere Teile, die mit "Challenges to the World of Nation States" und "Nationalist Historiography" überschrieben sind.
Der Begriff challenges passt nicht so recht. Am besten trifft ihn Cemil Aydins Beitrag zum "Pan-Nationalism of Pan-Islamic, Pan-Asian, and Pan-African Thought", während John Schwarzmantel von einer fortdauernden "reciprocal relationship" (651) zwischen "Nationalism and Socialist Internationalism" spricht, und Jürgen Osterhammel die komplexen Beziehungen zwischen Nationalismus, Nationalstaat und Globalisierung analysiert. In der Gegenwart gehöre zu den "global standards of political behaviour" (707) auch die Norm nationaler Selbstbestimmung. Gar nicht unter challenges lässt sich Peter van der Veers brillante Studie fassen, in der er zeigt, wie irreführend es wäre, "Nationalism and Religion" als Gegenkräfte zu sehen. Van der Veer thematisiert auch die wichtige Rolle, die Wissenschaftlern und Intellektuellen bei der Konstruktion von Weltregionen und damit auch von nationalen Weltbildern zukam. Dies spricht Paul Lawrence in seinem Beitrag zur Historiographie nicht an. Er muss als einzelner ein riesiges Feld beackern. Es ist deshalb verständlich, dass er nur weniges ansprechen kann. An diesem Beitrag tritt jedoch ein Problem scharf hervor, dass abschließend kurz angesprochen sei. Zu den Nationen, deren Geschichte in dem Werk behandelt wird, gibt es eine reiche nationalsprachliche Forschung. Sie ist den Autoren als Experten selbstverständlich bekannt. Doch die Leser, die sich darüber informieren wollen, erhalten allenfalls in den Anmerkungen einzelne karge Hinweise. Die Titel in der Rubrik "Further Reading", mit der jeder Beitrag schließt, nennen ausschließlich Studien in englischer Sprache. Ein Handbuch mit globalgeschichtlichem Anspruch sollte aber den Nutzern die Chance eröffnen, mehr kennenzulernen. Deshalb ist zu wünschen, dass der Verlag für die weiteren Auflagen, die dieses vorzügliche, künftig unentbehrliche Handbuch sicherlich bald erhalten wird, jedem Autor eine zusätzliche Seite spendiert, auf der den Lesern eine Ahnung davon vermittelt wird, dass man sich über fremde Kulturen nur eingeschränkt informieren kann, wenn man deren Sprachen nicht lesen kann.
Dieter Langewiesche