Michael Kannenberg: Verschleierte Uhrtafeln. Endzeiterwartungen im württembergischen Pietismus zwischen 1818 und 1848 (= Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 52), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 416 S., ISBN 978-3-525-55838-6, EUR 64,90
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Die im Sommersemester 2005 von der Theologischen Fakultät der Universität Basel als Dissertation angenommene Studie untersucht die Endzeiterwartungen im württembergischen Pietismus zwischen 1818 und 1848. Da sie sich ausdrücklich mit jenen pietistischen Württembergern befassen möchte, die im Land geblieben sind, die ihr Heil also nicht - millenarisch motiviert - in der Auswanderung gesucht haben, bietet sich das Jahr 1818 als Untersuchungsbeginn an. Das Datum liegt einerseits nach der in den Jahren 1816/17 kulminierenden Hungerkrise, die die Auswanderung zusätzlich beförderte, und andererseits fällt die Gründung Korntals ebenfalls in dieses Jahr. Hier in Korntal nämlich entstand, mit königlicher Genehmigung, eine von der Kirchen leitenden Behörde Württembergs unabhängige religiöse Gemeinde. Sie schuf die Basis dafür, dass endzeitlich orientierte Pietisten innerhalb Württembergs einen Zufluchtsort fanden. Den Endpunkt der Studie bildet mit 1848 jenes Jahr, in dem die revolutionären Ideen scheiterten und neue Voraussetzungen für die öffentliche Stellung der Konfessionen sowie für das Verhältnis von Staat und Kirche entstanden. Dreh- und Angelpunkt aber ist das Jahr 1836, für das der Beginn des rund hundert Jahre zuvor von Johann Albrecht Bengel (1687-1752) prognostizierten Anbruchs eines göttlichen Friedensreichs erwartet wurde.
Methodisch wählt die Studie einen kombinierten Ansatz aus theologiegeschichtlichem sowie sozial- und mentalitätsgeschichtlichem Zugang. Als methodische Leitkategorie dient jedoch - und dies ist das innovative Potential der Arbeit - ein kommunikationsgeschichtlicher Ansatz, der nach Orten, Mitteln und Wegen der Kommunikation ebenso fragt wie nach Motiven und Intentionen der durch Kommunikation verbundenen Akteure. Dadurch entsteht ein "Kommunikationsraum" (38) als ein Konstrukt von Menschen mit "spezifische[m] Denkstil und bestimmten kommunikativen Strukturen und Aktionsformen" (38). Der entscheidende methodische Vorteil dieses kommunikationsgeschichtlichen Zugriffs ist aber, dass sich so drei Erscheinungsweisen des württembergischen Pietismus unterscheiden lassen - nämlich erstens pietistische Theologen, zweitens (bildungs-)bürgerliche Pietisten und drittens der populare Pietismus -, die vielfach miteinander vernetzt waren. Dieser Ansatz schärft den Blick dafür, dass es gerade nicht die Endzeiterwartungen der Pfarrer und Theologen waren, die auf die Laien eingewirkt haben, sondern dass vielmehr Pfarrer und Theologen auf die endzeitlichen Erwartungen der Laienversammlungen reagieren mussten. Dass die in derartigen Privatversammlungen diskutierten millenarischen Ideen in aller Regel keine oder nur wenige schriftliche Spuren hinterlassen haben, führt die Quellenproblematik der Studie vor Augen. Denn als Quellengrundlage dienen vor allem private, handschriftliche Aufzeichnungen und staatliche, kirchenamtliche Quellen, dazu aber auch Zeitungen, Zeitschriften und weitere Periodika sowie Predigten und - in geringerem Maße - Flugschriften.
Die Studie ist in vier Großkapitel untergliedert. Das erste Kapitel ("Kommunikation der Endzeit", 41-119) fragt nach dem Stellenwert der endzeitlichen Erwartungen im popularen Pietismus. Im zweiten Kapitel ("Zwischen Unruhe und Ordnung", 121-185) werden dann die Positionen erweckter Pfarrer erarbeitet. Das dritte Kapitel ("Enttäuschte Hoffnungen", 187-259) befasst sich daraufhin mit der (Nach-)Wendezeit und zeigt für die Jahre von 1832 bis 1836, wie sich pietistische Theologen bemühten, enttäuschte Erwartungen aufzufangen, und zugleich versuchten, die Privatversammlungen wieder der Landeskirche anzunähern. Das vierte Kapitel ("Zwischen Konsolidierung und Resignation", 261-336) verfolgt schließlich die weitere Entwicklung bis zum Vormärz. Ein kurzes Schlusskapitel fasst die Ergebnisse zusammen.
Im württembergischen Pietismus vor 1836 bildeten Theologen sowie bürgerliche und aus einfachen Lebensverhältnissen stammende Pietisten ein "Denkkollektiv" (338), das durch eine gemeinsame endzeitliche Wahrnehmung der Wirklichkeit geprägt war. Nach dem Ausbleiben der Wiederkunft Christi machte sich jedoch zunehmend Verunsicherung breit, Gewissheiten wichen dem Zweifel. Zwischen Oktober 1847 und Juli 1848 wurde etwa das Korrespondenzbuch nicht weitergereicht, auf dem Höhepunkt der revolutionären Ereignisse fand kein kollegialer Austausch statt. Die mit der Industrialisierung einhergehenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen taten ein Übriges. So war für einige Zeitgenossen die Dampflokomotive das Ungeheuer, von dem die Offenbarung spricht. Unmittelbar nach 1836 scheint es den Theologen zunächst freilich gelungen zu sein, die endzeitliche Enttäuschung aufzufangen und neue Perspektiven aufzuzeigen. Dies war auch deshalb möglich gewesen, weil junge Theologen aus dem Umfeld von Ludwig Hofacker (1798-1868) und Christian Burk (1800-1880) zwar die millenarische Erwartung befördert hatten, zugleich aber die Erwartungen bremsten, die sich exakt auf das Jahr 1836 bezogen. Es erlaubte schließlich eine Umorientierung der linearen apokalyptischen Erwartung in die zyklisch wiederkehrende Feier von Sonn- und Festtagen sowie neu geschaffener jährlicher Missionsfeste. Zur medialen Aufbereitung konnte beispielsweise auf den eingeführten "Christenboten" zurückgegriffen werden. Hier, wie auch in der Betonung der exegetischen Leistungen der "Pietistenväter" (340), wurde bewusst an Traditionsstränge angeknüpft, was eine "Rückkehr der pietistischen Kreise in die Normalzeit, in den Alltag" (340) ermöglichte. Selbst wenn nicht alle pietistischen Gruppen zurück in die Volkskirche fanden, sondern den Weg in die endgültige Separation wählten, folgten doch viele dem Vorbild von Sixt Carl Kapff (1805-1879), der - wiewohl im Korntaler Pfarramt begonnen - später als württembergischer Prälat im Konsistorium wirkte. Die von Pietisten und württembergischer Kirche mit gleich ablehnender Stoßrichtung geführte Auseinandersetzung mit der Leben-Jesu-Forschung des David Friedrich Strauß (1808-1874) trug das ihre dazu bei, angesichts dieser neuen Bedrohung theologischer Grundfesten den Schulterschluss zu suchen. Die Rückkehr der pietistischen Bewegung in den Schoß der Kirche hatte freilich ihren Preis. Kannenberg verweist auf die Domestizierung der Eschatologie, infolgedessen "Hoffnungen moralisiert und dem Leistungsstreben der bürgerlichen Gesellschaft kompatibel gemacht" (341) wurden. Der abschließende Hinweis, dass das Andachtsbild vom breiten und vom schmalen Weg jetzt die gute Stube bürgerlicher Familien schmückte, machte die Rückführung der Pietisten in die Kirche und ihre Erinnerung gewordenen Hoffnungen augenfällig.
Mit Hilfe ihres kommunikationsgeschichtlichen Ansatzes ist es der vorliegenden Studie nicht nur gelungen, die schichtenübergreifenden und vielfach vernetzten Kommunikationslinien innerhalb des württembergischen Pietismus herauszuarbeiten, sondern auch (Re-)Aktionen und Reichweite millenarischer Erwartungshaltungen zu bestimmen sowie die mediale Vermittlung aufzuarbeiten. Indem sie ihr Augenmerk auch auf die schrittweise erfolgte Umpolung enttäuschter endzeitlicher Erwartung legt, kann sie überzeugend zeigen, wie letztendlich - trotz erschwerend hinzukommender revolutionärer Erschütterungen - die Reintegration der pietistischen Bewegung in die Volkskirche gelang. Die Folge war eine "Verbürgerlichung des Gottesreiches" (316). Die gewählte Außenperspektive auf die innerpietistischen Kommunikationsstrukturen und die Einbeziehung der anglo-amerikanischen Millenarismus-Forschung ergibt im Ergebnis einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Pietismus in Württemberg - jenseits der traditionalen "Generationenabfolge frommer Männer" (Ulrike Gleixner).
Sabine Holtz