Stephan Burgdorff / Norbert F. Pötzl / Klaus Wiegrefe (Hgg.): Preußen. Die unbekannte Großmacht, München: DVA 2008, 320 S., ISBN 978-3-421-04351-1, EUR 19,95
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Never judge a book by its cover - von diesem Prinzip soll auch bei der Besprechung des vorliegenden Bandes nicht abgewichen werden. Doch wenn sich die Redaktion des Magazins DER SPIEGEL im Jahre 2008 dem Thema Preußen zuwendet, fühlt man sich unweigerlich an Rudolf Augstein erinnert, der vor genau 40 Jahren, als Beitrag zum "tollen Jahr" 1968, polemisch gegen den "Rechtfertigungsputz" anschrieb, "mit dem die deutsch-konservative Geschichtsschreibung" - neben dem Altvorderen Gustav Schmoller war damit vor allem Friedrichbiograf Gerhard Ritter gemeint - den preußischen Staat verklärt habe. [1] Den tiefschwarz gehaltenen Umschlag zierte seinerzeit ein verhärmter Preußenkönig mit verkniffenem Mund und stechendem Blick.
Wie lange das alles her ist! So denkt man, während man ein Buch zur Hand nimmt, dessen Schutzumschlag sich zumindest auf den ersten Blick so ganz anders, nämlich weiß präsentiert. Auch der König, der die untere Bildhälfte beherrscht, ist nicht mehr derselbe. Kein verbittertes Männlein diesmal, sondern eine Majestät hoch zu Ross: Rauchs Reiterstandbild Unter den Linden. Friedrich sieht man nur von unten, gewissermaßen aus der Untertanenperspektive. Und so lässt sich auch nicht recht erkennen, ob die Blicke des Preußenkönigs auf der in der oberen Umschlaghälfte abgebildeten Berliner Eisengießerei ruhen, deren dunkle Rauchschwaden bereits von einer neuen, einer ganz anderen Zeit künden, in der die altpreußische Monarchie erst auf- und schließlich untergehen sollte.
Der hintergründigen Bildkomposition entspricht der nachdenkliche Untertitel von Preußen als der unbekannten Großmacht. Mitherausgeber Klaus Wiegrefe spricht mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte von einer "Verharmlosung Preußens durch Ästhetisierung." (33) Man könnte es auch schlicht eine Musealisierung nennen, die das Thema Preußen nach 1945 schrittweise ereilte, nachdem die großen Schlachten geschlagen oder vielmehr in Vergessenheit geraten waren. Auf die damit verbundenen Probleme wies Klaus Neitmann bereits vor geraumer Zeit hin, beruhen doch viele aktuelle Darstellungen weiterhin auf Grundlagenforschungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. [2] Wie viel es deshalb über Preußen jenseits überkommener positiver wie negativer Mythen und Legenden noch zu lernen gibt, zeigten in den vergangenen Jahren beispielsweise die Studien Christopher Clarks und Andreas Kosserts. [3]
Insofern ist es dem Gegenstand durchaus angemessen, dass der vorliegende, sich an interessierte Laien richtende Band weniger eine Gesamtdarstellung bietet, als vielmehr ein essayistisches Kaleidoskop unterschiedlichster kleiner wie großer Themen darstellt. So versammelt das Buch insgesamt 28 Beiträge und ein Interview mit Clark, die sich auf fünf chronologische Sektionen verteilen und zum Teil bereits im SPIEGEL-Magazin zu lesen waren. Im ersten Abschnitt ("Das widersprüchliche Preußen") führt Wiegrefe unter dem Leitmotiv der Janusköpfigkeit - kein Buch über Preußen ohne Madame de Staël - in die Thematik ein, bevor die geografische Bandbreite preußischer Geschichte zwischen dem schwäbischen Stammland der Hohenzollern und dem Ordensstaat an der Ostsee verfolgt wird. Der zweite Teil ("Anfang und Aufstieg") beleuchtet die politische und kulturelle Entwicklung vom Großen Kurfürsten über die Selbstkrönung Friedrichs I. in Königsberg 1701 bis hin zur Rolle Preußens bei der Zerstückelung Polens von 1772 bis 1795.
Im dritten Abschnitt ("Reformstaat Preußen") stehen die Jahrzehnte nach dem militärischen und moralischen Zusammenbruch des altpreußischen Staates im Jahre 1806 im Mittelpunkt. Neben der mit den Namen Stein und Hardenberg verbundenen Neuorganisation der Verwaltung finden hier u.a. Beiträge zur Berliner Salonkultur und zum exzeptionellen Aufstieg der Familie Mendelssohn ihren Platz. Es schließen sich unter dem Rubrum "Restauration und Revolution" vier Essays über die Revolution von 1848 und die sich anschließende konservative Reaktion an. Der viel diskutierte "Abschied von Preußen" setzt im vorliegenden Band mit Bismarcks Bündnis mit der Nationalbewegung ein. Betrachtungen über den bemerkenswerten Wandel des Obrigkeitsstaates zum "Bollwerk der Demokratie" unter der Ägide des Sozialdemokraten Otto Braun sowie die widersprüchliche Haltung des preußischen Adels zwischen den Polen einer lange Zeit unterschätzten Affinität gegenüber dem Nationalsozialismus und der Miturheberschaft des Attentats vom 20. Juli 1944 runden dieses letzte Kapitel ab.
Über das eine oder andere wird man geteilter Meinung sein dürfen. War Preußen beispielsweise, wie Clark in seiner ebenso kenntnisreichen wie stilistisch eleganten Annäherung an den Menschen Friedrich meint, auf dem richtigen Weg, "solange der weitsichtige Friedrich am Ruder saß" (96)? Wer genauer in die Aktenüberlieferung hineinhört, vernimmt bereits in den Jahrzehnten vor dem Thronwechsel von 1786 ein zunehmendes Knirschen in der Staatsmaschine, die selbst durch einen intellektuell begnadeten Selbstherrscher nur noch mit wachsenden Reibungsverlusten zu steuern war. Vice versa sollte der Staatsapparat um 1800 nicht auf eine "verrottete" Verwaltung und eine "verfallene" Armee reduziert werden, wie dies Wiegrefe tut (24). Es würde zu kurz greifen, mit Blick auf das nach 1806 ins Werk gesetzte Reformbündel mit Hans-Ulrich Wehler lediglich von "defensiver Modernisierung" zu sprechen, da sich die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft - sektoral freilich in unterschiedlichem Maße - auf Vorarbeiten aus den vorangegangenen Jahrzehnten stützen konnte. Auf die Judenemanzipation trifft dies allerdings nur mit größten Einschränkungen zu. Als abwegig ist deshalb Susanne Beyers These zu bezeichnen, Friedrich der Große habe Lessings und Mendelssohns Forderung aufgegriffen, den Juden gleiche Rechte wie den Christen zu verleihen (200).
Aufs Ganze gesehen sind dies jedoch nur Kleinigkeiten. Stärker als dies bei populärwissenschaftlichen Publikationen gemeinhin der Fall ist, gelingt den meisten Autoren eine Integration auch jüngster Forschungsergebnisse. Beispielsweise sei auf Jan Friedmanns differenzierten Beitrag über die "schwarze Legende" der preußischen Junker verwiesen, deren Herrschaft sich auf Basis der Studien William W. Hagens viel fragiler gestaltete als lange Zeit vermutet, sodass schwerlich von einem ostelbischen "Agrar-Knast" (241) gesprochen werden kann. Erfrischend wirkt einmal mehr die Unbekümmertheit Clarks, der im Interview mit dem SPIEGEL die vielbeschworene Janusköpfigkeit Preußens und mit ihr die Existenz eines deutschen "Sonderweges" überhaupt in Zweifel zieht. Es sei stattdessen an der Zeit, "andere Fragen zu stellen und Raum zu schaffen für neue Sichtweisen." (298)
Augstein schloss 1968 seine Abrechnung mit Preußen mit dem Wunsch "Fiat". Soweit wird es wohl so bald nicht kommen, aller Musealisierung zum Trotz. Freilich: Zwischen Schwaben und Memelland, Sanssouci und Garnisonkirche, Flötenkonzert und Preußens Gloria, Friedrich und Otto Braun - Preußen, wo liegt es? Der vorliegende Band beansprucht keine verbindliche Antwort, liefert jedoch auf seine Weise Anhaltspunkte für den Wandel des Preußenbildes: Die blutige Geburtsstunde preußischer Großmacht, der Siebenjährige Krieg, wird auf wenig mehr als zwei Seiten abgehandelt (die früher gerade einmal für den Choral von Leuthen ausgereicht hätten). So ist die preußische Ruhmeshalle zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr im Zeughaus Andreas Schlüters zu suchen, sondern direkt nebenan, im Palais des Prinzen Heinrich, das heute die Humboldt-Universität beherbergt. Es sind die Reformen Steins, Hardenbergs und Humboldts, die Wiegrefe würdigt als eines der "großen Modernisierungsprojekte der europäischen Geschichte" (148), welches sich auch neben der Französischen Revolution sehen lassen könne. Aber warum auch nicht? Ein "Feuerwerk an Reformen" (129), Universitäten von Weltruf, eine Einkommensteuer mit einem Spitzensatz von fünf Prozent und alles ohne Fallbeil - dies wären nicht die schlechtesten preußischen Traditionsbestände, über die sich auch heute noch mit Gewinn nachdenken ließe.
Anmerkungen:
[1] Rudolf Augstein: Preußens Friedrich und die Deutschen, Frankfurt a.M. 1968, 8.
[2] Klaus Neitmann: Vorwort zu: Rolf Straubel: Beamte und Personalpolitik im altpreußischen Staat. Soziale Rekrutierung, Karriereverläufe, Entscheidungsprozesse (1763/86-1806), Potsdam 1998, 13.
[3] Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600-1947, München 2007. Vgl. hierzu die ausführliche Rezension von Jürgen Luh, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 6; URL: http://www.sehepunkte.de/2008/06/12790.html; Andreas Kossert: Ostpreußen. Geschichte und Mythos, 3. Aufl., München 2005.
Tobias Schenk