Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs (Hg.): Österreichs Archive unter dem Hakenkreuz (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs; 54 (2010)), Innsbruck: StudienVerlag 2010, 738 S., ISBN 978-3-7065-4941-7, EUR 49,20
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Überblickt man die archivgeschichtlichen Neuerscheinungen der vergangenen Jahre, kann von einem Orchideenfach zumindest mit Blick auf das 20. Jahrhundert nicht länger die Rede sein. Seit der 75. Deutsche Archivtag von Stuttgart im Jahre 2005 (spät genug) die Rolle des Fachs im Nationalsozialismus thematisierte, haben entsprechende Studien Konjunktur. In Überwindung ex post konstruierter Mythen eines vermeintlich unpolitischen Berufsstandes gewinnt dabei das Bild einer tief in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft verstrickten Funktionselite zunehmend an Kontur. Verwiesen sei an dieser Stelle lediglich auf die im Rahmen der Rassegesetzgebung geleistete Amtshilfe ("Ariernachweise") oder den als "Archivschutz" getarnten Archivalienraub in den besetzten Gebieten, an dem sich zahlreiche Archivare unter Verletzung des Provenienzprinzips beteiligten. [1] Mit dem vorzustellenden Band legt die Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs nunmehr eine Standortbestimmung aus österreichischer Perspektive vor.
Zugrunde gelegt wurde dabei ein institutionengeschichtlicher, an den einzelnen Archivsparten orientierter Aufbau. Die Sektion "Zentralarchive" wird eröffnet durch zwei sich teilweise überschneidende Beiträge von Rudolf Jeřábek und Hartmut Weber über die Entstehungsgeschichte des Reichsarchivs Wien und die diesbezüglichen Pläne des Direktors des Haus-, Hof- und Staatsarchivs (HHStA), Ludwig Bittner.[2] Dieser hatte bereits vor 1938 relativ offen mit dem Nationalsozialismus sympathisiert und sah mit dem "Anschluss" die Stunde zur Verwirklichung seine Vorstellungen von einer organisatorischen Vereinheitlichung des bislang sehr zersplitterten österreichischen Archivwesens gekommen. Bittners Vorhaben, nach preußischem oder bayerischem Muster eine gegenüber den übrigen österreichischen Ministerial- und Landesarchiven weisungsbefugte Generaldirektion zu installieren, wurde durch die Einführung des Reichsgausystems und die damit einhergehende Zerschlagung des Landes Österreich allerdings obsolet. Stattdessen wurden 1940 die zentralen Archive des Reichsgaus Wien (HHStA, Staatsarchiv des Innern und der Justiz, Hofkammer-, Finanz- und Unterrichtsarchiv) mit Ausnahme des in die Heeresverwaltung eingegliederten Kriegsarchivs (nunmehr Heeresarchiv) zu einem Reichsarchiv zusammengefasst.
Dieses unterstand zwar direkt dem Reichsinnenministerium, verfügte jedoch über keine überregionale Zuständigkeit, sondern stellte ein "totes" Archiv ohne ihm als Schriftgutproduzenten zugeordnete Behörden dar. Zugleich erfolgte die Umwandlung der vormaligen Landes(regierungs)archive in Reichsgauarchive, die damit einer einheitlichen archivfachlichen Führung entzogen waren und mehr und mehr in das Gravitationsfeld der Gauleiter gerieten. Die anschließenden Beiträge zum HHStA (Thomas Just), zum Staatsarchiv des Innern und der Justiz (Rudolf Jeřábek), zum Hofkammer- (Herbert Hutterer), Heeres- (Michael Hochedlinger) und Verkehrsarchiv (Maria Stagl) machen deutlich, dass bereits vor 1938 eine erhebliche Zahl zumal der akademischen Mitarbeiter von einer großdeutschen und/oder nationalsozialistischen Orientierung geprägt war. Insbesondere im HHStA war unter der Direktion Bittners ein "weltanschaulich geschlossener Mitarbeiterstab" entstanden, der schon vor dem "Anschluss" mit NS-Forschungsinstituten wie Wilhelm Graus Münchner "Forschungsabteilung Judenfrage" kooperierte.
Nach 1938 positionierten sich vor allem das HHStA und das Hofkammerarchiv mit politisch motivierten Forschungsarbeiten im Sinne der neuen Machthaber. Das HHStA betrieb u. a. eine Aktenedition zu "großserbischen Umtrieben" vor 1914 und trat in diesem Zusammenhang auch für die Beschlagnahmung von Archivbeständen auf dem Balkan ein. Derweil beackerte das Hofkammerarchiv das Feld der Siedlungsforschung und leistete somit Schreibtischarbeit für die geplante ethnische Flurbereinigung im Osten. Hofkammerarchivar Franz Stanglica trat 1940 gar in die SS ein, um sich am "Volkstumskampf" im Generalgouvernement zu beteiligen - "mit der Waffe in der Hand", wie er 1941 "aus diesem scheußlichen Polen" stolz nach Wien berichten konnte (190). Einen Statusverlust hatte derweil das Heeresarchiv hinzunehmen, das von einem selbstbewussten Forschungsinstitut zu einer "nachgeordneten Aktensammelstelle" herabsank: Altösterreichische Traditionspflege war in Berlin unerwünscht.
In die Anfänge des bereits im Juli 1945 aus der Taufe gehobenen und bei der Staatskanzlei ressortierenden Österreichischen Staatsarchivs, dem nun auch das zuvor zur Reichsbahn gehörende Verkehrsarchiv eingegliedert wurde, führt sodann Jeřábek in einem zweiten Beitrag ein. Geprägt war die Entwicklung von einer "nahezu vollständigen Erneuerung des Personalstandes" (366): Bittner hatte im April 1945 den Freitod gewählt, sein Stellvertreter Lothar Groß war bereits im Vorjahr früh verstorben.[3] Zahlreiche politisch belastete Archivare wie beispielsweise Walther Latzke, der schließlich beim Bundesarchiv in Frankfurt unterkam, wurden entlassen bzw. zwangspensioniert. Derweil sollte der zum Generaldirektor bestellte Wiener Ordinarius Leo Santifaller als Exponent einer "abendländischen" Mediävistik die wissenschaftspolitische Anschlussfähigkeit Österreichs an Westeuropa und die USA wieder herstellen. Die 1947 erfolgte Versetzung des HHStA-Direktors Jakob Seidel, der jede Distanzierung von den entlassenen Beamten verweigerte, zeugt von den starken Friktionen innerhalb der Beamtenschaft, deren Alltagsgeschäft von der Rückführung ausgelagerter Bestände, der Restitution der in der NS-Zeit in Europa geraubten Archivalien und der Abgabe der wieder zu Registraturgut gewordenen Akten an die neu gegründeten österreichischen Zentralbehörden geprägt war.
Die zweite Sektion enthält Beiträge über die Landes(regierungs)- bzw. Reichsgauarchive Innsbruck, Graz, Wien, Linz, Klagenfurt, Bregenz (zwischen 1940 und 1945 eine Zweigstelle des Reichsgauarchivs Innsbruck) und Eisenstadt (geführt als Filialarchiv des Reichsgauarchivs Niederdonau in Wien), die hier nicht einzeln gewürdigt werden können. In lokaler Ausprägung stehen Themen im Mittelpunkt, die zwischen 1933 und 1945 auch die Archive des "Altreiches" beschäftigten: der Nutzeransturm im Rahmen des "Ariernachweises", die zum Teil in Konkurrenz mit NS-Sonderbehörden wie dem Reichssippenamt betriebene Übernahme von Archivgut aus jüdischem und kirchlichem Besitz (genannt seien lediglich die Benediktinerstifte Göttweig und Altenburg, deren Archive als "volks- und staatsfeindliches Vermögen" ins Gauarchiv Niederdonau wanderten) und die zunehmende personelle Auszehrung durch Einberufungen zur Wehrmacht. Spätestens seit 1943/44 überlagerten schließlich auch in den Archiven der "Ostmark" der Archivalienschutz und der damit verbundene Transport von Beständen in zahllose dezentrale Auslagerungsstätten alle anderen Aktivitäten.
Die abschließende Sektion repräsentiert exemplarisch das kommunale und kirchliche Archivwesen und wird eröffnet durch einen Beitrag über das Stadtarchiv Linz und dessen Verflechtung in die kulturpolitischen Initiativen in der "Jugendstadt des Führers". Fragen des kirchlichen Archivwesens erörtert ein Sammelbeitrag mit Schwerpunkten auf dem Diözesanarchiv Salzburg, dem 1938 enteigneten Archiv der Benediktinerabtei St. Peter (Salzburg) und dem Archivwesen der evangelischen Kirche. Die tiefen, oft mit unwiederbringlichen Bestandsverlusten verbundenen Einschnitte des nationalsozialistischen "Klostersturms" werden dabei ebenso deutlich wie die zentrale Bedeutung, die den genealogisch verwertbaren Kirchenbüchern und Matrikeln in diesen Auseinandersetzungen zukam (zumal Standesämter in der "Ostmark" erst 1939 eingerichtet wurden).
Mit dem besprochenen Band, der angesichts seines Grundlagencharakters durch ein Register noch gewonnen hätte, legt die Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs ein wichtiges Referenzwerk vor, dem auch in Deutschland zahlreiche Leser zu wünschen sind. Denn ausgeforscht ist das Thema in Deutschland ebenso wenig wie in Österreich. Neben wissenschaftsgeschichtlichen Fragen, wie sie Robert Kretzschmar auf dem Stuttgarter Archivtag 2005 mit Blick auf die Entwicklung der archivischen Überlieferungsbildung angemahnt hat, dürfte es nicht zuletzt die Provenienzforschung sein, die noch erhebliche Anstrengungen notwendig machen wird. Erinnert sei an dieser Stelle lediglich an die noch immer in Moskau lagernden "Gegnerbestände", die von den Nationalsozialisten 1938 in Österreich beschlagnahmt wurden, und an die in zahlreichen deutschen Staatsarchiven verwahrten Mikrofilme von verloren gegangenen genealogischen Quellen jüdischer Provenienz.
Anmerkungen:
[1] Stellvertretend seien genannt: Robert Kretzschmar (Hg.): Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag in Stuttgart, Essen 2006; Stefan Lehr: Ein fast vergessener "Osteinsatz". Deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine, Düsseldorf 2007.
[2] Vgl. auch Thomas Just: Ludwig Bittner (1877-1945). Ein politischer Archivar, in: Karel Hruza (Hg.): Österreichische Historiker 1900-1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Portraits, Wien / Köln / Weimar 2008, S. 283-305.
[3] Vgl. Michael Hochedlinger: Lothar Groß (1887-1944). Zur Geschichte des österreichischen Archivwesens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Archivalische Zeitschrift 89 (2007), S. 45-118.
Tobias Schenk