Hilmar Sack: Der Krieg in den Köpfen. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg in der deutschen Krisenerfahrung zwischen Julirevolution und deutschem Krieg (= Historische Forschungen; Bd. 87), Berlin: Duncker & Humblot 2008, 278 S., ISBN 978-3-428-12655-2, EUR 58,00
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Zu den Deutungsstrategien, mit denen Gesellschaften ihre aktuellen Erfahrungen verarbeiten, gehört die historische Analogie. Gegenwärtiges mit Vergangenem zu vergleichen, ja in eins zu setzen, nimmt dem Aktuellen das Beunruhigende des gänzlich Unbekannten; der Rekurs auf das bereits Geschehene gewährt Sicherheit und Orientierung. Darüber hinaus werden mit historischen Analogien interpretatorische Absichten verfolgt: Die Ereignisse der Vergangenheit tragen Bedeutungen, die auf das gegenwärtige Geschehen projiziert werden. Welche Analogie jeweils gewählt und welche vermieden wird, ist oftmals Gegenstand von heftigen Deutungskämpfen.
Die Dissertation von Hilmar Sack, von Heinrich August Winkler an der Berliner Humboldt-Universität betreut, untersucht eine historische Analogie, die seit 1648 zum Grundbestand der politischen Rhetorik von Krieg, Verwüstung und kollektiver Demütigung in Deutschland gehörte: den Vergleich mit den Ereignissen des Dreißigjährigen Krieges. Dafür hat sie einen Zeitraum gewählt, in dem dieses Deutungsmuster aufgrund spezifischer Umstände eine besondere Brisanz besaß. Zwischen der Julirevolution von 1830 und dem Deutschen Krieg von 1866, so Anfangs- und Endpunkt der Studie, wuchs die Bedeutung der Nationalidee rapide. Nationale Interpretationen der deutschen Geschichte benutzten den Dreißigjährigen Krieg, um einen historischen Tiefpunkt zu markieren: Deutsche kämpften gegen Deutsche, fremde Völker fielen in das Reich ein, der Westfälische Frieden besiegelte die Zerstückelung des Landes. Seit den Befreiungskriegen hatte sich der Nationsbegriff insgesamt zu militarisieren begonnen: Wer über nationalpolitische Themen sprach, schlug schnell eine Brücke zu Krieg und Gewalt. Auch in dieser Hinsicht bot sich der Rekurs auf den Dreißigjährigen Krieg an. Zudem spielte in Deutschland im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts der konfessionelle Gegensatz eine wichtige Rolle. Sack schließt an neuere Forschungstrends an, die ihn für eine Konfliktlinie von lange unterschätzter, tatsächlich aber ausschlaggebender Bedeutung halten. Protestanten wie Katholiken erinnerten an den Dreißigjährigen Krieg, um die historischen Vergehen ihres konfessionellen Widerparts anzuprangern und um dessen besondere Verantwortung für den Niedergang Deutschlands zu betonen.
Der erste analytische Abschnitt des Buches, der die Zeit zwischen 1830 und dem Vorabend der Revolution von 1848/49 behandelt, fällt relativ knapp aus. Wie im gesamten Verlauf seiner Untersuchung stützt sich Sack in erster Linie auf Zeitungsartikel, in zweiter Linie auf öffentliche Reden, hin und wieder auch auf literarische Texte. Für den Vormärz, eskalierend in der Rheinkrise von 1840, arbeitet er heraus, wie die im nationalen Lager als schmerzlich empfundene Ohnmacht Deutschlands mit der Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges verglichen wurde. Das uneinige Deutschland musste erleben, dass auswärtige Mächte in seine Angelegenheiten eingriffen; gerade der Erzfeind Frankreich konnte nicht in die Schranken gewiesen werden, weil es dem in viele Teile gespaltenen Reich an der nötigen Stärke und Geschlossenheit fehlte.
In der Revolution von 1848/49 trat ein Deutungsmuster in den Vordergrund, das auch im Vormärz schon eine Rolle gespielt hatte: Die Warnung vor dem entfesselten Bürgerkrieg, vor einer Selbstzerfleischung der Nation, wie sie zwischen 1618 und 1648 erfolgt sei. Diese Diskursposition wurde nicht nur von Konservativen eingenommen, sondern auch von gemäßigten Revolutionären, die befürchteten, dass der Umsturz aus dem Ruder lief. An das Trauma des Dreißigjährigen Krieges zu rühren, das im Kollektivbewusstsein der Deutschen tief verankert war, schien die beste Garantie für die Vermeidung von Exzessen zu sein. Als Negativvision wurde wieder die Spaltung der Nation beschworen, die auswärtige Mächte förmlich dazu einlade, in Deutschland nach Belieben zu walten. Dagegen sei die Revolution mit dem Anspruch angetreten, die Nation zu einigen, um den Westfälischen Frieden und seine Folgen gleichsam auszulöschen; in der Koinzidenz der Jahreszahlen 1648 und 1848 drückte sich der besondere Zusammenhang zwischen den Ereignissen symbolisch aus.
Der Streit zwischen den Konfessionen, der sich in der Revolution vorrangig am Streit um die klein- oder großdeutsche Lösung festmachte, griff ebenfalls häufig auf die historische Analogie zum großen Religionskrieg des 17. Jahrhunderts zurück. Ein Erbkaisertum des Hauses Hohenzollern, befürchteten viele Katholiken, vollende die Spaltung der Nation, die von Luther eingeleitet und von Gustav Adolf auf die Spitze getrieben worden sei; für die Katholiken werde es in einem solchen Staat keinen angemessenen Platz mehr geben. Umgekehrt brachten Protestanten mit der Vorherrschaft des Hauses Habsburg in Deutschland den endgültigen Sieg der Gegenreformation in Verbindung.
Diese Konstellation sollte auch die Deutung des Krieges von 1866 prägen. Der Kampf zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland legte eine Abbildung auf die Geschehnisse zwischen 1618 und 1648 nahe. Berlin stand für den evangelischen Glauben, Wien für den katholischen. Dass in Preußen auch mehrere Millionen Katholiken lebten, wurde ignoriert; ebenso, dass für den Kaiser auch Staaten wie etwa Sachsen kämpften. Protestantische Interpreten sahen auf der Seite Österreichs einen neuen Wallenstein sein Haupt erheben, obwohl Benedek, der Oberkommandierende der kaiserlichen Nordarmee, mit der es die preußischen Truppen zu tun hatten, evangelisch getauft war. Der Einfallsreichtum der Kommentatoren kannte keine Grenzen: Die österreichischen Soldaten, die seit dem Krieg gegen Dänemark von 1864 in den Elbherzogtümern stationiert waren, entsprachen den kaiserlichen Landsknechten, die nach den Siegen gegen König Christian IV. von Dänemark und die protestantischen Reichsstände bis zur Nord- und Ostsee vorgestürmt waren. Umgekehrt warf man auf österreichischer Seite den Preußen vor, die Todsünde des Dreißigjährigen Krieges aufs Neue zu begehen: Das Bündnis mit Italien lasse eine nicht-deutsche Nation von den innerdeutschen Querelen profitieren - so wie im Dreißigjährigen Krieg vor allem Frankreich und Schweden, von den deutschen Konfliktparteien gerufen, ihre Beutestücke aus dem blutenden Reich gerissen hatten.
Damit sind nur die wichtigsten Deutungsstrategien wiedergegeben. Sack kommt durch eine genaue Unterscheidung der verschiedenen politischen und konfessionellen Lager, Richtungen und Teilöffentlichkeiten einer Vielzahl von Varianten des zentralen Deutungsmusters auf die Spur. Dabei ist ihm wohl bewusst, dass der konfessionelle Streit des 19. Jahrhunderts de facto von den Religionskonflikten des 17. Jahrhunderts weit entfernt ist: Das Religiöse hat sich im bürgerlichen Jahrhundert längst mit der Nationalidee amalgamiert. Im Kern geht es nicht mehr um Glaubensbekenntnisse, sondern um die sozialkulturelle Vorherrschaft im antizipierten bzw. entstehenden Nationalstaat. So nachdrücklich Sack bescheinigt werden kann, das semantische Potenzial der historischen Analogie zum Dreißigjährigen Krieg durch seine vielen Funde und genauen Lektüren ausgeschöpft zu haben, so ratlos bleibt der Leser doch im Hinblick auf die Frage nach dem historischen Gewicht dieses Deutungsmusters zurück. Der Krieg von 1866 etwa wurde beileibe nicht nur durch den Vergleich mit den Ereignissen von 1618-1648 interpretiert, sondern zum Beispiel auch durch die Verknüpfung mit dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Preußen war in diesem Sinne die Sezessionsmacht, die aus dem Deutschen Bund ausgetreten war. Irgendeine Aussage darüber, welcher diese beiden Deutungsansätze dominierte, ist der Untersuchung nicht zu entnehmen. Ebenso wenig gelingt es, aus den verschiedenen Verwendungsweisen des zentralen Deutungsmusters Rückschlüsse auf politische Fronten oder Allianzen zu ziehen, die von den diesbezüglichen Erkenntnissen der bisherigen Forschung wegführten. Stattdessen entscheidet sich die Studie in etwas unselbständig wirkender Weise dafür, die politisch-publizistische Landschaft so aufzufassen, wie sie von Vorgängerstudien beschrieben worden ist, und die jeweilige Verwendung der historischen Analogie fast nur zur Bestätigung der dort beschriebenen Lagerstrukturen, politisch-konfessionellen Standpunkte etc. einzusetzen. Dessen ungeachtet liegt eine gut strukturierte, gründlich erarbeitete und sorgfältig interpretierende Studie vor, die erstens zusätzliches Licht in die publizistischen Kämpfe in den Jahrzehnten vor der Reichsgründung bringt, zweitens aber auch unabhängig von ihrem Gegenstand für die allgemeine Kulturgeschichte des Politischen von Wert ist - zeigt sie doch exemplarisch die Bedeutung der politisch-sozialen Sinnstiftung durch historische Analogien auf.
Frank Becker