Robin Mitchell-Boyask: Plague and the Athenian Imagination. Drama, History, and the Cult of Asclepius, Cambridge: Cambridge University Press 2007, xiv + 209 S., ISBN 978-0-521-87345-1, GBP 50,00
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Bei den Ausschachtungen für den Bau der Athener U-Bahn wurde 1994 im Kerameikos-Bereich ein Massengrab mit zahlreichen Toten aufgedeckt, die offensichtlich in rascher Folge und ohne besondere Sorgfalt bestattet worden waren. Die wenigen Grabbeigaben sind in die Zeit um 430 v.Chr. zu datieren, so dass die Verstorbenen zweifellos Opfer der verheerenden 'Pest' waren, die von 430 bis 426 in Athen grassierte. Mitchell-Boyask weist in seinem "prologue" darauf hin, dass jene geradezu pietätlose Bestattung den Bericht des Thukydides (2,47-54) über die Reaktionen der Athener auf die verheerende Seuche bestätigt, die zu einer Missachtung religiöser und kultischer Verpflichtungen führte. Neuere medizinische Untersuchungen haben ergeben, dass Thukydides den Verlauf der Krankheit "relativ exakt beschrieben", aber nicht zutreffend gedeutet hat. [1] Letzteres scheint auch heute noch nicht möglich zu sein. Mitchell-Boyask will daher nicht das Krankheitsbild, sondern die Auswirkungen der Epidemie auf die Verhaltensweisen der Athener analysieren. Er erörtert unter diesem Aspekt nicht nur archäologische Zeugnisse wie das um 420 v.Chr. erbaute Heiligtum des Asklepios am Akropolishang beim Dionysos-Theater. Auch Tragödien, in denen das Erleben der Seuche seinen Niederschlag gefunden hat, werden recht ausführlich besprochen.
Dass vom Asklepieion aus der Blick auf das Theater fiel, bestätigt nach Auffassung von Mitchell-Boyask den Zusammenhang von "Heilung" und "Gesang" sowie die hieraus resultierenden Verbindungslinien zwischen Drama, Medizin, Politik und Ritual. Er geht davon aus, dass Gesang eine Art Therapie nach all den Leiden sein konnte, die durch das Wüten der Epidemie erduldet wurden. Erfreulicherweise erörtert er sein Thema in einem großen Rahmen mit Reflexionen über den Tod im Mythos und im Drama vor der großen Seuche in Athen. Er erläutert den zunehmenden Einfluss der Schule des Pythagoras und ihrer Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele und betont, dass der Heroenkult für Griechenland und insbesondere für Athen und die Aufführungen der Tragödien große Bedeutung gewonnen hat, zumal man an eine gewisse Erhaltung der Lebenskraft der Heroen in ihrem Grab glaubte. Zu korrigieren ist freilich die Annahme des Verfassers (13), dass Kleisthenes in Athen die Demokratie eingeführt habe.
Eine breite Grundlage für seine Untersuchungen zur Darstellung der verheerenden Folgen der Seuche verschafft sich der Verfasser, indem er zahlreiche diesbezügliche Belege interpretiert. Die meisten von ihm erörterten Zeugnisse finden sich in attischen Tragödien. Kein anderes Drama hat in diesem Zusammenhang größere Aufmerksamkeit gefunden als Sophokles' Oidipus Tyrannos. Das Stück wurde allem Anschein nach etwa 425 aufgeführt. In der dramatischen Darstellung wütet in Theben eine Seuche, gegen die es "keine Waffe der Klugheit" gibt (Vers 171). Ob der Dichter hier durch Ereignisse der vorausgegangenen 'Seuchenjahre' in Athen beeinflusst wurde, ist zwar umstritten. Mitchell-Boyask zweifelt aber nicht, dass die Zuschauer gleich zu Beginn der Aufführung mit dem Hinweis auf ein Reinigungsritual an die Epidemie erinnert wurden. Sophokles habe in der gesamten Tragödie das Verhältnis zwischen der betroffenen Gemeinschaft und ihrem Leiter in der Zeit einer Seuche in einer Sprache beschrieben, die nicht generell im Theater verwendet wurde (64). Er schließt hieraus, dass durch die Aufführung des Dramas gleichsam eine Brücke zwischen der 'Welt der Bühne' und der 'realen Welt der Zuschauer' hergestellt wurde. Offenbar kannte Mitchell-Boyask eine neuere Untersuchung von Irene Huber nicht, die zur Interpretation dieses Stückes einen wertvollen Beitrag geleistet hat. [2] Sie legt dar, dass schon in der ersten Szene Maßnahmen gezeigt werden, die typisch griechische Rituale der Abwehr von Unheil spiegeln, während an späterer Stelle (V. 180-183) das grauenvolle Bild der Toten auf den Straßen an die Pestbeschreibung des Thukydides (2,52) erinnert. Frau Huber führt ferner aus, dass im Oidipus Tyrannos der Urheber der Leiden, der "feuersprühende Gott" als personifizierte Pest (loimos) den Hades mit Toten füllt und damit dem Typus orientalischer Seuchengötter entspricht, die mit Brand und Feuer in Verbindung gebracht wurden. Wenn im Oidipus Tyrannos (863-910) der Chor den Verlust von Ordnungsprinzipien in der Gemeinschaft beklagt, so erinnert dies zudem auch an die Ausführungen des Thukydides (2,47,4) über die Vernachlässigung der Bittgänge zu den Tempeln.
Durch Thematisierung von Pein und Leiden in den Trachinierinnen des Sophokles ist es nach Auffassung von Mitchell-Boyask ebenfalls gerechtfertigt, dieses Stück als "plague drama" zu bezeichnen (67). Die Datierung der Tragödie ist indes umstritten. Mitchell-Boyask hat viele Aspekte und Probleme der von ihm behandelten Thematik aufgezeigt und neue Wege zur Beurteilung der Auswirkungen der großen Seuche in Athen betreten. Die Erträge seiner Untersuchung wären sicherlich noch größer, wenn er mehr deutschsprachige Forschungen wie die bemerkenswerte Arbeit von Irene Huber ausgewertet hätte.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Winfried Schmitz: Göttliche Strafe oder medizinisches Geschehen - Deutungen und Diagnosen der "Pest" in Athen (430 - 426 v.Chr.), in: Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, hg. von Mischa Meier, Stuttgart 2005, 44-65, hier 59.
[2] Irene Huber: Rituale der Seuchen- und Schadensabwehr im Vorderen Orient und Griechenland. Formen kollektiver Krisenbewältigung in der Antike, Stuttgart 2005, 96-101.
Karl-Wilhelm Welwei