Sven Oliver Müller / Jutta Toelle (Hgg.): Bühnen der Politik. Die Oper in europäischen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert (= Musikkulturen europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert; Bd. 2), München: Oldenbourg 2008, 225 S., ISBN 978-3-486-58570-4, EUR 29,80
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Als Band 2 einer Reihe zur "Gesellschaft der Oper: Musikkultur europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert" leuchtet der vorliegende, aus einer 2006 veranstalteten Konferenz in Florenz hervorgegangene Sammelband die Wege weiter aus, die Philipp Thers großes Buch [1], das die Reihe eröffnete, vorgezeichnet hat. Warum und wie, so lässt sich die zentrale Frage zusammenfassen, waren es immer wieder Opernhäuser und die darin gegebenen Stücke, die im Zentrum politischer Debatten standen? Was erlaubte einer als elitär und damit exklusiv konzipierten und wahrgenommenen Kunstform, einerseits ihre zentrale Rolle auch in demokratischen, egalitätsorientierten Gesellschaften zu bewahren, andererseits immer wieder den Anstoß zu revolutionären Aktionen oder einen Ort zur Artikulation revolutionärer Gefühle zu bieten?
Der sich in der gegenwärtigen Diskussion zur politischen Kultur verortende Band versucht nicht, darauf allgemeine Antworten zu geben; er stellt vielmehr in drei Abteilungen ("Inszenierungen", "Bestätigungen" und "Bedrohungen") Dimensionen des Problems vor, die zugleich helfen, die Fragen zu schärfen. "Inszenierungen" ist den politisch affirmativen Funktionen von Opern und Opernhäusern gewidmet: der Visualisierung einer gefälligen und erotischen Budapester Moderne durch die Aufführung von Excelsior 1887 (Markian Prokopovych), dem (letztlich erfolglosen) Versuch, die mittelalterliche "Kudrun"-Vorlage zu einer deutschen Nationaloper auszugestalten (Barbara Eichner) und der Suche nach einer dem neuen Regime angemessenen Opernkultur an der Scala und im Bolschoi Theater der 1920er Jahre (Irina Kotinka).
Die "Bestätigungen" liegen inhaltlich davon nicht ganz so fern. Hier geht es um die Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper 1955 als Inszenierung der Rückkehr eines sich erfolgreich zum ersten Opfer des Nationalsozialismus stilisierenden Österreich in die Gemeinschaft kultureller Großmächte (Peter Stachel), um die Beschreibung der Konfliktkonstellationen in kroatischen Nationalopern (Vjera Katalinić) und um den Wandel der "politischen Ästhetik" der Frankfurter Oper zwischen den Jubiläumsfeiern des Sieges über Frankreich 1896 und denen des Goethe-Jahrs 1922 (Stephanie Kleiner).
Der hochinteressante Beitrag von Sarah Zalfen, der am Beispiel der Diskussionen um Covent Garden und die Bastille-Oper in den 1990er Jahren das Paradox einer Staatsopernpolitik veranschaulicht, die gerade bei der teuersten Kunstgattung Exzellenz mit sozialer Offenheit und breiter Akzeptanz verbinden will, hätte auch im Abschnitt "Bedrohungen" seinen Platz finden können. Denn wie Sven Oliver Müller anhand zweier Saalschlachten in Paris und London dokumentiert, ist die Frage, wer (zu wessen Gunsten) die Aufsicht über die Gestaltung künstlerischer Programme und über die Personalpolitik der Opernhäuser haben soll, keineswegs neu, sondern war bereits im 19. Jahrhundert heftig (und gelegentlich sogar physisch) umkämpft. Die anderen drei Beiträge dieser Sektion sind der Oper als politischem Herrschaftsinstrument einerseits, als Ort, wo (etwa durch Besuchsboykott) auch politischer Widerstand artikuliert werden konnte, andererseits gewidmet: Mailand im Risorgimento (Bruno Spaepen), Kiew im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts (Ostap Sereda) und Venedig im Habsburgerreich (Jutta Toelle).
Die innovativen Beiträge werfen zugleich ein Problem der Operngeschichtsschreibung auf: Sie handeln von der Ökonomie der Oper, von der Interaktion unterschiedlicher Parteien und Klassen im Zuschauerraum, von Libretti mit mehr oder weniger nationalem Gehalt, vom Management durch staatliche Bürokratien, private Impresarios oder die Tyrannei des Publikums - kurzum um Dinge, die man ebensogut am Beispiel von Nationaltheatern nachvollziehen könnte. Es erweist sich offenbar als schwierig, die für die Oper charakteristische Dimension, nämlich die Musik, ohne weiteres in das Paradigma einer Kulturgeschichte des Politischen einzuordnen. Daher ist der zentrale Aufsatz des Bandes der Beitrag von Michael Walter, der am Beispiel Giacomo Meyerbeers Opern genau das versucht. Nachdem er überzeugend konventionelle Argumente für den Erfolg der Formel Meyerbeer widerlegt, argumentiert er, die Tatsache, dass die "Musik der grand opéra weder im Großen noch im [D]etail vorhersehbar" (35) gewesen sei, habe die Individualität des Komponisten in den Mittelpunkt gestellt und damit der politisch dominanten Strömung des Liberalismus besonders gut entsprochen. Das entspricht der These Christophe Charles, das Sprechtheater des 19. Jahrhunderts habe gerade in den historischen Dramen den Zeitgeist repräsentiert, indem es demonstrierte, wie durch ein bisschen Theaterschminke aus Schauspielern Monarchen werden konnten [2] - dass gleichzeitig ein umgekehrter Prozess ablief, hat Johannes Paulmann bereits vor einigen Jahren dokumentiert. [3] In dieser Richtung weiterzudenken und zu forschen dürfte sich lohnen, und der vorliegende Band liefert dazu neben interessanten Detailstudien wichtige konzeptionelle Bausteine.
Anmerkungen:
[1] Philipp Ther: In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815-1914, München 2006.
[2] Christophe Charle : Théâtres en capitales. Naissance de la société du spectacle à Paris, Berlin, Londres et Vienne 1860-1914, Paris 2008.
[3] Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000.
Andreas Fahrmeir