Joseph Kiermeier-Debre / Fritz Franz Vogel: Kunst kommt von Prestel. Das Künstlerehepaar Johann Gottlieb und Maria Katharina Prestel (Frankfurt / London), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 224 S., ISBN 978-3-412-20249-1, EUR 29,90
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Die technisch brillanten und in ihrer ästhetischen Wirkung verblüffenden Reproduktionsgrafiken von Johann Gottlieb Prestel (1739-1808) und seiner Ehegattin Maria Katharina, geborene Höll, (1747-1794) wurden bereits durch die Dissertation von Ernst Rebel [1] als signifikante Etappe auf dem Weg vom klassischen Nachstich hin zur massenmedialen Reproduktion des Kunstwerkes bekannt gemacht. In den letzten Jahren erfuhr allein Maria Katharina Prestel monografische Bearbeitung [2], und ein Dutzend ihrer Werke wurde jüngst etwa als Beispiel einer im 18. Jahrhundert in Frankfurt wirkenden Künstlerin präsentiert. [3] Dass die Städtische MEWO Kunsthalle in Memmingen nun das Schaffen beider Künstler gemeinsam würdigen und in einer Ausstellung präsentieren kann, darf prinzipiell als Glücksfall für die Erforschung der Grafik gelten. Hintergrund ist die bereits 2003 erfolgte Stiftung von rund 200 Prestel-Grafiken aus einer Privatsammlung an die Stadt Memmingen. Der Katalog zur Ausstellung versucht offenbar, der Wissenschaft zu genügen und gleichermaßen ein als "Spezialisteninteresse" verschmähtes Terrain einem breiten Publikum zugänglicher zu machen - wobei das Ergebnis dieses Spagats, soviel sei vorweggenommen, ausgesprochen zwiespältig ausfällt.
Zunächst loten sieben auffallend heterogene Textbeiträge die Bandbreite des Themas aus. Zu Beginn befragt Diana Feßl das von J.G. Prestel um 1770 gestochene Selbstporträt nach der repräsentierten Rolle des Künstlers (9f.), die Platzierung im Band lässt den Leser jedoch gleichermaßen mit der Tür ins Haus fallen. Der folgende Überblick zur Biografie der Prestels (12-21) repräsentiert die warmherzige, jedoch ein wenig epische Annäherung des Sammlers Walter Prestel an die Thematik. Essentielle Quellennachweise muss man hingegen vermissen. Joseph Kiermeier-Debre schließt sich mit einer detailreichen Betrachtung zur Wirkungsästhetik der Prestelschen Blätter an und fragt nach deren Bewertung durch Goethe und die Seinen sowie die aktuelle Bildwissenschaft (46-51). Er konstatiert - Goethes Wertmaßstab stets im Blick - als Quintessenz schlichtweg das Verschwinden der persönlichen Handschrift durch die Perfektionierung der Technik, ja eine dezidierte und symptomatische Unfähigkeit Prestels "zu Nachahmung, zu Manier und Stil" (51).
Auf welchen Grundlagen und unter welchen Voraussetzungen die Prestel-Stiche entstehen konnten, erfährt der Leser erst jetzt durch die gut strukturierten Ausführungen von Claudia-Alexandra Schwaighofer, zunächst am Beispiel von M.K. Prestel. Der erste Beitrag (103-116) durchmisst das Spannungsfeld zwischen den Möglichkeiten weiblicher Kunstausübung und den Lebensstationen Nürnberg, Frankfurt und London. Ebenso werden die komplexen druckgrafischen Methoden (Kombination verschiedener Techniken, oft von mehreren Platten und in verschiedenen Farbtönen) erläutert, bis hin zu dem Detail, dass bei der Reproduktion von Zeichnungen respektive Gemälden jeweils neue Strategien der Umsetzung zu entwickeln waren. Der zweite Beitrag (120-140) widmet sich den drei großen Mappenwerken [4], ebenso der Geschichte der Reproduktions- und Mappenwerke zuvor und den Mechanismen des zeitgenössischen Grafikmarktes. Verdienstvoll ist die Textedition der Lebensbeschreibung Johann Gottlieb Prestels, die sein Schüler Georg Christian Braun 1819 im Nachtrag seiner seltenen Lebensbeschreibung Leonardo da Vincis publizierte (142-162).
Lesenswert der Beitrag von Christine Haug (164-178), die dem Nachleben von Prestels Frankfurter Kunsthandlung im frühen 20. Jahrhundert und des davon abgespaltenen Münchener Verlages nachspürt - auch wenn die sicher ebenso aufschlussreiche Geschichte der Kunsthandlung nach 1808 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgeklammert bleibt. Fast schon obsolet erscheinen hingegen die Ausführungen Fritz Franz Vogels (192-201), der Bezüge zwischen Faksimilestich, früher Fotografie und der aktuellen Technik von Scan, Bildbearbeitung und Katalogdruck zu ergründen sucht. Die begleitenden 24 Variationen nach Prestels "Heiliger Barbara" führen denn auch die Trickkiste einer "modernen" Bildbearbeitung mit den Filterfunktionen des Programms "Photoshop" in einer weitgehend sinnfreien und überflüssigen, um nicht zu sagen ordinären Weise vor.
Überhaupt trägt die Gestaltung des Bandes viel zu dessen janusköpfigem Charakter bei. Einerseits ergeben hochaufgelöste Direktscans und der Druck mit frequenzmoduliertem Raster (ohne regelmäßig gesetzte Rasterpunkte) eine außerordentliche Wiedergabequalität, die in teils ganzseitigen Abbildungen bestens zur Geltung kommt. Andererseits spielt Fritz Franz Vogel als Layouter offenbar gerne mit effektheischenden und modischen Mitteln der Gestaltung, die in Kunstkatalogen bislang schlichtweg nichts zu suchen hatten: Da werden Abbildungen beliebig skaliert und frei flottierend, überschneidend und überlappend über Doppelseiten geschoben, mit gelb aufblitzenden Lichträndern (!) versehen, ja schlimmstenfalls zur Briefmarke verkleinert als "Bild im Bild" in (!) eine größere, andere Abbildung hineingesetzt. All' dies übertreffen jedoch spielend jene schimärenhaften Bildzwitter, die sich aus der Zusammenstückung gleicher Grafiken in abweichenden Farbvarianten (86, 111), ja, schlimmer noch, aus dem Zusammensetzen von Grafik und zugrunde liegender Originalzeichnung (44f., 84, 87) ergeben. Der einem simplen Werbeslogan entlehnte Titel des Bandes wirkt gegenüber dieser marktschreierischen Anbiederung an den vermuteten Geschmack eines breiten Publikums geradezu brav.
Als verschenkte Gelegenheit zu Besserem muss leider auch der Katalogteil gelten (204-221, der Bearbeiter bleibt ungenannt), der weder einer raschen Übersicht über das umfangreiche Material dienlich ist, noch wissenschaftlichen Ansprüchen genügen kann. Die wenig sinnfällige Gliederung unterscheidet bei den meisten Exponaten [5] zwischen beiden Prestels und ordnet diese nach Nagler, während allein die gemeinsam geschaffenen Blätter des "Schmidtschen Kabinettes" als Block gesammelt sind (das "Praunsche" und das "Kleine Kabinett" wurden hingegen aufgesplittet). Benutzerunfreundlich sind auch die fehlenden Verweise auf vorangehende, große Abbildungen.
Die Katalogeinträge selbst lassen Einheitlichkeit vermissen - ganz gleich, ob Größenangaben mal Blatt, mal Platte oder beides betreffen, Titel als fremdsprachiges Originalzitat oder in Übersetzung erscheinen oder manche Literaturangaben nicht konsistent mit den Siglen des Literaturverzeichnisses sind. Unverständlich ist das Zurückfallen hinter längst publizierte Forschungsergebnisse, etwa bei der Identifizierung der Originalvorlagen. [6] Noch schwerer wiegt die oft uneinheitliche, oft auch nicht komplette oder schlicht inkorrekte Angabe der druckgrafischen Technik. So werden unbedruckt stehen gelassene Stellen mit "weiß gehöht" (etwa Nr. 1243; 1254) oder die Verwendung einer zweiten Tonplatte mit "getuscht" (etwa Nr. 1048a und b) umschrieben und somit missverständlich Termini der Zeichenkunst (!) verwendet. Für ein Verständnis der komplexen Drucktechniken wäre ohnehin ein Glossar unverzichtbar gewesen.
Die seit rund 200 Jahren immer wieder kolportierte Aussage, Entstehung und Technik der Prestel-Drucke seien, als von den Schöpfern eifersüchtig gehütetes Geheimnis, keineswegs in allen Details zu klären, ließe sich schließlich durch eingehende Autopsie des Materials, womöglich auch durch moderne materialtechnische Untersuchungsmethoden in vielen Fällen relativieren. [7] Eine solche Materialbestimmung zu leisten, bleibt demnach die essentielle Aufgabe jeder weiteren Forschung zu den Prestel-Drucken.
Anmerkungen:
[1] Ernst Rebel: Faksimile und Mimesis, Studien zur deutschen Reproduktionsgraphik des 18. Jahrhunderts, Mittenwald 1981, zu den Prestels insbes. 83-113 et passim.
[2] Claudia Schwaighofer: Das druckgraphische Werk der Maria Catharina Prestel (1747-1794), Magisterarbeit Universität München 2001, Online-Version unter http://epub.ub.uni-muenchen.de/archive/00000050/ (23.6.2006); Druckfassung unter dem Titel: Die Kunst der Nachahmung - Dürer, Carracci und Parmigianino in den Reproduktionsgraphiken der Nürnbergerin Maria Katharina Prestel (1747-1794), Stuttgart 2006.
[3] Blickwechsel. Frankfurter Frauenzimmer um 1800, hg. von Ursula Kern, Ausstellungskatalog Historisches Muserum Frankfurt am Main 2007; zu M.K. Prestel 119-130 (Wolfgang Cilleßen).
[4] Das 1776-1780 erschienene "Praunsche Kabinett" mit 48 Reproduktionen nach Zeichnungen des Nürnberger Patriziers Siegmund Christoph Ferdinand von Praun (1731-1795), das "Schmidtsche Kabinett" 1779-1782 mit 30 Stichen nach der Sammlung von Gerhard Joachim Schmidt (1742-1801) sowie das 1782-1785 herausgegebene "Kleine Kabinett" nach 36 Vorlagen verschiedener Provenienz.
[5] Die Nummerierung der Exponate beginnt - den Inventarnummern entsprechend? - unerklärterweise mit "1001", um später mit größeren Sprüngen fortzulaufen.
[6] So sind diverse dem "Praunschen Kabinett" zugrunde liegende Zeichnungen einfach zu identifizieren nach: Kunst des Sammelns. Das Praunsche Kabinett, Ausstellungskatalog Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 1994. Auch die Stiche nach Johann Georg Trautmann (Selbstbildnis, Nr. 1225) und Christian Georg Schütz d.Ä. (Stralenbergerhof, Nr. 2214) sind bereits seit langem als Reproduktionen zweier Gemälde im Freien Deutschen Hochstift - Frankfurter Goethe-Museum bekannt.
[7] So entstand beispielsweise Nr. 1505, Maria Katharina Prestels Blatt "Die Feier der Heiligen Messe", nach einer lavierten und weiß gehöhten Federzeichnung auf blauem Papier von Jacopo Vignali als Druck von einer Aquatinta-Platte in Blau sowie einer zweiten Platte in Braun, die Aquatinta, Pinselätzung und Linienradierung kombiniert. Der Katalog gibt lediglich "Aquatinta in Blaugrün, weiß gehöht" an. - Diese genaue Bestimmung war nach Autopsie des gleichen Blatts mit dem Fadenzähler sowie nach einem extrem hoch aufgelösten Direktscan leichthin vorzunehmen.
Gerhard Kölsch