Rezension über:

Sam J. Barnish / Federico Marazzi (eds.): The Ostrogoths from the Migration Period to the Sixth Century. An Ethnographic Perspective (= Studies in Historical Archaeoethnology; Vol. 7), Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2007, 497 S., ISBN 978-1-84383-074-0, GBP 60,00
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Rezension von:
Hans-Ulrich Wiemer
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Ulrich Wiemer: Rezension von: Sam J. Barnish / Federico Marazzi (eds.): The Ostrogoths from the Migration Period to the Sixth Century. An Ethnographic Perspective, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/05/15086.html


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Sam J. Barnish / Federico Marazzi (eds.): The Ostrogoths from the Migration Period to the Sixth Century

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Das 1979 erstmals erschiene, in mehrere Sprachen übersetzte Goten-Buch Herwig Wolframs erfreute sich lange Zeit fast allgemeiner Zustimmung, wird inzwischen aber aus verschiedenen Richtungen heftig kritisiert. Vor allem in Nordamerika erhebt man den Vorwurf, das Modell der Ethnogenese sei bloß eine verbrämte Fortführung elitärer und nationalistischer Ideologien aus dem Zeitalter der Weltkriege und verstelle den Blick auf die antiken Quellen. Dieser Kritik kommt eine starke Strömung in der Archäologie entgegen, die es für grundsätzlich verfehlt erklärt, nach Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen und materieller Kultur zu suchen: Beide Richtungen konvergieren darin, dass sie Aussagen über das Selbstverständnis sozialer Gruppen bewusst vermeiden und zu einem Rückzug auf das selbstgenügsame Beschreiben der mit den Mitteln der jeweils eigenen Disziplin fassbaren Phänomene tendieren (symptomatisch: A. Gillet (ed.): On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages, Turnhout 2002).

Der hier anzuzeigende Band repräsentiert einen anderen Zugang zum Thema; er enthält Beiträge einer internationalen Tagung in San Marino, die Historiker, Archäologen und Sprachwissenschaftler zu einem Gespräch über offene Fragen der Gotenforschung versammelte. Er dokumentiert nicht bloß die Vorträge, die auf der Tagung gehalten wurden, sondern auch die intensiven und teilweise kontroversen Diskussionen, die auf sie folgten, sowie ein abschließendes Gespräch über die Möglichkeiten für zukünftige Forschungen (443-480). In dieser Kombination liegt der besondere Reiz des Bandes, weil er einen sehr lebendigen Eindruck von den unterschiedlichen Zugängen und Verfahrensweisen der beteiligten Disziplinen vermittelt. Die Vorträge selbst sind für die Drucklegung in ungleichem Maß bearbeitet worden: Während einige mit umfangreichen Verweisen auf Quellen und Literatur versehen wurden, tragen andere den Charakter von Thesenpapieren; in einem Fall handelt es sich um einen Text, der zuvor in einem Handbuch in italienischer Sprache erschienen war und nun in englischer Übersetzung vorgelegt wird. Leider sind die Texte schlampig lektoriert worden; die Qualität der Abbildungen und Karten lässt sehr zu wünschen übrig, und viele Objekte, die in den archäologischen Beiträgen besprochen werden, sind gar nicht zu sehen. Auch von der diffusen und ungenauen Paraphrase der Einzelbeiträge, die den Band einleitet (5-27), sollte man sich nicht abschrecken lassen, denn die Lektüre des Bandes lohnt sich für jeden, der sich über Stand und Perspektiven der Gotenforschung informieren möchte.

Die einzelnen Beiträge können im Rahmen einer Kurzrezension nicht adäquat gewürdigt werden; es muss genügen, Themen und Thesen kurz zu umreißen. P. Heather (King's College, London) und S. J. Barnish (UCL) befassen sich mit Grundfragen der Geschichte des Ostgotenreichs in Italien: Barnish (317-336) betont die regionale Vielfalt dieses Herrschaftsraums und analysiert auf sehr profunde und differenzierte Art und Weise die Mechanismen seiner Integration. Heather (3-59) unterzieht die These Patrick Amorys, die gotische Identität sei nicht mehr als ein ideologisches Konstrukt der königlichen Zentrale, einer gründlichen und überzeugenden Kritik, indem er ihre Verwurzelung in einer breiten Schicht von Kriegern nachweist. Auch der Beitrag von T. S. Brown (Edinburgh) setzt sich kritisch mit Amorys Thesen auseinander, indem er die Auffassung verteidigt, die Zugehörigkeit zur arianischen Kirche sei ein Faktor unter mehreren gewesen, durch die sich die Goten in Italien von ihrer Umwelt unterschieden (417-441). P. C. Diaz und R. Valverde (Salamanca) untersuchen die Beziehungen zwischen den Goten Theoderichs und den Goten in Spanien und gelangen zu dem Resultat, dass die Vorstellung, die beiden Gruppen hätten einen gemeinsamen Ursprung gehabt, aufgebracht wurde, um Theoderichs Herrschaft in Spanien zu legitimieren (353-386).

Die Geschichte der Goten vor ihrem Übertritt auf Reichsboden steht (nur) in zwei Beiträgen von archäologischer Seite zur Debatte: M. Kazanski (Paris) argumentiert anhand von "Fürstengräbern" in der heutigen Ukraine für die Entstehung einer gotischen Aristokratie unter hunnischer Herrschaft (81-112). A. Kokowski (Lublin) versucht, mittels archäologischer Zeugnisse Aufschlüsse über die Landwirtschaft der Goten in den ersten vier nachchristlichen Jahrhunderten zu gewinnen (221-248). Wie problematisch das ist, wird in der anschließenden Diskussion sehr deutlich, da der von Kokowski vorausgesetzte "gotische Wanderzyklus" heute meist als historiographisches Konstrukt betrachtet wird und die Aussagekraft von Knochenfunden für das Verhältnis von Viehzucht und Landwirtschaft fragwürdig ist. Methodisch besser abgesichert sind die Versuche, durch eine Kombination von Schriftquellen und archäologischen Zeugnissen die Entwicklung einzelner Regionen Italiens zu analysieren. G. P. Brogiolo (Padova) beschäftigt sich mit Bauten und Siedlungen in Norditalien (113-142); er stellt heraus, dass archäologische Datierungen in der Regel zu ungenau sind, um feststellen zu können, ob bestimmte Bauten unter ostgotischer Herrschaft errichtet oder bloß weiter genutzt wurden, und betont, dass sich Goten und Romanen im archäologischen Befund nicht unterscheiden lassen (wenn man von Frauengräbern absieht). Anhand der Beispiele Brescia und Verona formuliert er die These, dass es im Laufe des 5. Jahrhunderts zu einer allmählichen Aufgabe öffentlicher Räume und Aufspaltung großer Wohneinheiten gekommen sei. Zugleich hätten viele Städte Befestigungsmauern erhalten. G. Noyé (Paris) findet archäologische Indizien für eine Konzentration des Grundeigentums in Süditalien, die zu sozialen Spannungen geführt habe (183-219). F. Marazzi (Neapel) argumentiert, dass die urbane Infrastruktur Roms trotz der nötigen Anpassungen bis zur Reconquista Justinians im wesentlichen erhalten geblieben, danach aber rasch zusammengebrochen sei (279-316). Ian Wood (Leeds) schließlich wendet sich den Bauten Theoderichs in Ravenna zu und ermittelt Anhaltspunkte für die Nachahmung spezifisch ravennatischer Formen imperialer Repräsentation (249-277). Die Sprachwissenschaft ist durch die Beiträge von W. Haubrichs (Saarbrücken) und D. Green (Cambridge) vertreten: Haubrichs untersucht die Terminologie für Verwandtschaftsbeziehungen in den germanischen Sprachen und stellt fest, dass sich das Gotische vom Westgermanischen einerseits durch eine Konzentration auf die nächste Verwandtschaft und andererseits durch eigene Termini für Konkubinat und sozialen Status unterscheide (143-182). In der anschließenden Diskussion wird freilich deutlich, dass dieser Befund beim Fehlen einschlägiger Schriftquellen nicht bloß schwer zu deuten, sondern auch keineswegs in jeder Hinsicht gesichert ist, weil die Isolierung des gotischen Wortschatzes in vielen Fällen der Kontroverse unterliegt. Diese methodischen Probleme werden von Green ausdrücklich thematisiert, der aber gleichzeitig betont, dass die Annahme Amorys, das Gotische sei zur Zeit Theoderichs eine "tote" Sprache gewesen, aus sprachwissenschaftlicher Sicht unhaltbar sei, und hervorhebt, dass die Verteilung gotischer Ortsnamen in Italien durchaus zu dem passt, was aus Schriftquellen und Grabfunden erschlossen werden kann (387-416).

Abschließend sei noch einmal betont, dass der Band ebenso informativ wie stimulierend ist, weil er nicht beim "Dekonstruieren" stehenbleibt, sondern versucht, Wege zu einer reflektierten und konstruktiven Zusammenarbeit zwischen allen Disziplinen zu bahnen, die sich mit Überresten der Goten beschäftigen. Dass die historische Interpretation archäologischer und sprachwissenschaftlicher Befunde diffizile und im konkreten Fall nicht immer lösbare Probleme aufwirft, sollte uns von diesem sinnvollen und fruchtbaren Unternehmen nicht abhalten.

Hans-Ulrich Wiemer