Guido Thiemeyer: Internationalisierung und Diplomatie. Währungspolitische Kooperation im europäischen Staatensystem 1865-1900 (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 19), München: Oldenbourg 2007, 255 S., ISBN 978-3-486-58431-8, EUR 34,80
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Dass die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Epoche des beschleunigten globalen Zusammenwachsens in den Bereichen Kommunikation, Verkehr und Handel war, daran kann kein Zweifel bestehen. Wodurch dieses von den Zeitgenossen als "Internationalismus" bezeichnete Phänomen ausgelöst wurde und welche Folgen es für das europäische Staatensystem zeitigte, ist weit weniger bekannt. Antworten auf diese Fragen liefert nun die archivalisch fundierte Habilitationsschrift von Guido Thiemeyer. Ausgehend vom "Modell der 'evolutionären Universalien'" des amerikanischen Soziologen Talcott Parsons [1], untersucht Thiemeyer in fünf Fallstudien "einzelne Krisen oder Wendepunkte" der internationalen Währungsbeziehungen zwischen 1865 und 1900 (11) und vertritt dabei die These, dass das Eindringen von Wirtschaft und Parlamentarismus in die internationale Politik zu einem "fundamentale[n] Wandel des europäischen Staatensystems zwischen 1865 und 1914" (13) geführt habe.
Den Ausgangspunkt der Studie bildet die Gründung der Lateinischen Münzunion 1865. Nachdem der Währungsverbund der Bimetallismus-Staaten Frankreich, Italien, Belgien und der Schweiz durch neue Goldfunde in den USA zu Beginn der 1860-er Jahre gestört worden war, schufen sie gemeinsam mit Griechenland 1865 eine neue Währungsunion, die neben währungs-, auch handels- und außenpolitische Ziele verfolgte. Ging es den Mitgliedstaaten allgemein darum, den als vorteilhaft empfundenen Zustand fixer Austauschrelationen zwischen den Währungen mit Hilfe eines internationalen Vertrages wiederherzustellen, hofften insbesondere die kleineren Länder unter ihnen, durch Anschluss an den in Westeuropa dominierenden französischen Wirtschaftsraum ökonomische Interessen wahren zu können. Frankreich selbst zielte darüber hinaus darauf ab, seinen machtpolitischen Anspruch auf die "Hegemonie über Kontinentaleuropa" zu unterfüttern (55). In den Augen Thiemeyers steht die Münzunion daher einerseits für den wachsenden Einfluss ökonomischer und gesellschaftlicher Kräfte auf die außenpolitischen Entscheidungen der europäischen Staaten, andererseits für die Auflösung der "Wiener Ordnung" und ganz generell "für die beginnende neue Beziehung zwischen dem internationalen System der Wirtschaft und jenem der Politik" (225). Eher gering wird von ihm die Tatsache veranschlagt, dass der Arkanbereich der Großen Politik auch schon vor 1865 'löchrig' geworden war und Napoleon III. nicht erst jetzt danach trachtete, die Entscheidungen des Wiener Kongresses zu revidieren.
Indem die "politische und wirtschaftliche Zentralmacht Europas" (225), das Deutsche Kaiserreich, sich der Münzunion verweigerte und stattdessen nach ihrer Gründung 1871 den Goldstandard einführte, schob sie der Durchsetzung des Bimetallismus im Verein mit der dominierenden Wirtschaftsmacht Großbritannien einen Riegel vor. Verantwortlich für diese "Révolution monétaire générale" in Europa (99) zeichneten nach Meinung Thiemeyers liberale deutsche Finanzpolitiker wie Ludwig Bamberger und Rudolph Delbrück, die jede währungspolitische Kooperation mit anderen Staaten ablehnten und "nationale Unabhängigkeit und Souveränität zum positiven Ziel" erhoben (227) - freilich nur in dem Maße, wie Reichskanzler Bismarck dies "zuließ" (233).
Ein neues Kapitel der internationalen Währungspolitik begann dann den Ausführungen Thiemeyers zufolge 1878 mit dem Auftritt der USA auf der europäischen Bühne. Mit der von ihnen initiierten Pariser Währungskonferenz trachteten sie aus innenpolitischen Gründen danach, das für die eigene Wirtschaft geltende Wertverhältnis zwischen Gold und Silber international durchzusetzen und so einer "(nicht nur) ökonomische[n] Zivilisierung der Welt" den Weg zu ebnen (229). Da das Deutsche Reich auf der Konferenz nicht vertreten war, stellte sich der erhoffte Erfolg jedoch nicht ein. Ganz auf die schwierigen Verhandlungen des Berliner Kongresses über die virulenten Balkanfragen konzentriert, stellte Bismarck nachdrücklich unter Beweis, dass von einer Vernetzung von ökonomischer und politischer Sphäre noch nicht die Rede sein konnte.
Als die USA drei Jahre später im Verein mit Frankreich eine zweite Währungskonferenz einberiefen, nahm das Deutsche Reich zwar teil. In Übereinstimmung mit Großbritannien behandelte die Reichsregierung die Währungsfrage aber weiterhin vornehmlich unter machtpolitischem Blickwinkel, wohingegen die USA und Frankreich sich unter dem Einfluss der öffentlichen Meinung als Vorreiter eines währungspolitischen Subsystems in den internationalen Beziehungen gerierten.
Bisweilen, dies vermag Thiemeyer am Beispiel der Krise der Lateinischen Münzunion von 1885 nachzuweisen, diente die Währungspolitik "zur Flankierung außenpolitischer Schritte" (187). Vor dem Hintergrund kolonialpolitischer Spannungen mit Frankreich benutze Italien etwa die Münzunion Mitte der 1880er Jahre, um die Verbindung zu seinem Nachbarn nicht vollends abreißen zu lassen und die Abhängigkeit von seinen Dreibund-Partnern Deutschland und Österreich-Ungarn nicht weiter zu steigern.
Dass auch Deutschland und Großbritannien sich dem Druckpotential der Währungspolitik nicht vollends entziehen konnten, verdeutlicht dann das letzte Kapitel der Studie. Anfang der 1890er Jahre drängten exportorientierte Wirtschaftszweige in Berlin und London vor dem Hintergrund einer weltweiten Konjunkturkrise auf die Einführung des bimetallischen Systems, vermochten sich aber nicht durchzusetzen, weil ihnen im Reichstag bzw. Unterhaus die Mehrheit fehlte. Erst nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs sollte der währungspolitische Status quo Europas zusammenbrechen.
Insgesamt lässt sich nach der Lektüre der tiefgründigen und auf einer beeindruckenden Archivbasis beruhenden Analyse Thiemeyers konstatieren, dass das internationale Währungs- und das Staatensystem in dem von ihm durchmessenen Zeitraum trotz unverkennbarer "wechselseitiger Interferenzen" (232) ihre Autonomie (noch) keineswegs eingebüßt hatten. Ob die These Klaus Hildebrands, wonach dem diplomatischen System weiterhin der Primat gegenüber dem der Währung zukam [2], tatsächlich - wie der Autor suggeriert - als überholt gelten muss, wird wohl erst nach weiteren Untersuchungen zu klären sein. Von einem "fundamentalen Wandel des europäischen Staatensystems" (13) konnte jedenfalls nur bedingt die Rede sein.
Anmerkungen:
[1] Talcott Parsons: Evolutionary Universals in Society, in: American Sociological Review 29 (1964), 339-357.
[2] Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945, Stuttgart 1995, 167.
Ulrich Lappenküper