Philipp Müller: Erkenntnis und Erzählung. Ästhetische Geschichtsdeutung in der Historiographie von Ranke, Burckhardt und Taine (= Beiträge zur Geschichtskultur; Bd. 33), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 385 S., ISBN 978-3-412-20128-9, EUR 44,90
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Hayden Whites Thesen über die literarische Struktur von Geschichtsschreibung und die Rückwirkungen von Erzählweisen auf Untersuchungsinhalte regen nun schon seit mehr als 35 Jahren geschichtstheoretische Studien an. Mittlerweile lassen sich mindestens zwei Stufen der White-Rezeption unterscheiden. Bis etwa 1990 dominierte eine 'Apologie der Geschichtswissenschaft' die Reaktionen der Historiker auf Whites Thesen. Vor allem in "Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe" (1973) und "Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism" (1978) wurde ein postmoderner Frontalangriff auf den Faktizitätsanspruch und damit auf die existenziellen Grundlagen der Geschichtswissenschaft gesehen. Die Diskussionen zwischen den 'Verteidigern der Geschichte' und White, der die Rolle des 'Agent Provocateur' übernahm, waren von Polemik geprägt. Zudem hängten sie sich an formalen Schwächen der Whiteschen Argumentation auf (etwa dem immer wiederkehrenden starren Vierer-Schema), vielfach ohne die großen Linien und Thesen dieser Argumentation in ihrer Bedeutung für die historische Disziplin ausreichend zu betrachten.
Auf die Tiefendimension von Whites Thesen gingen dann Dissertationen ein, die seit Mitte der 1990er Jahre entstanden. Sie wiesen auf die enge Verbindung zwischen der Entstehung moderner Geschichtsschreibung und modernem Roman hin. Die erste und zugleich wegweisende dieser Dissertationen war Daniel Fuldas "Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der moderne deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860" (1996); es folgten die Bände von Viktor Lau ("Erzählen und Verstehen", 1999), Johannes Süßmann ("Geschichtsschreibung oder Roman?", 2000) und Thomas Prüfer ("Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft", 2002). Kennzeichnend für sie ist es, dass sie "den Blick für die spezifisch historische Dimension ästhetischer Begriffe [eröffnen] und [...] von hier aus zu neuen Thesen der Historiographiegeschichte" (14) gelangen.
Auch Philipp Müllers an der Humboldt-Universität zu Berlin vorgelegte Doktorarbeit beschäftigt sich mit dieser Problemstellung. Ihr Anspruch ist es, den Blick auf das Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft grundlegend zu historisieren. Die Historiographie seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts sei nicht, wie Fulda, Lau, Süßmann und Prüfer konzediert hätten, "in den Formen einer einmal erworbenen ästhetischen Geschichtsdeutung verhaftet geblieben; vielmehr hat sie ihr Verständnis von den Strukturen immer wieder rekonfiguriert" (15). Müller geht es damit um die Beziehungen zwischen dem sich wandelnden Kunstverständnis der Historiker und deren sich (nicht zuletzt deswegen) wandelndem Geschichtsverständnis. Mit dem von ihm oft bemühten Begriff der "Rekonfiguration" bezeichnet Müller Neuausrichtungen der Geschichtsdeutung unter veränderten ästhetischen Vorzeichen.
Als Beispiel dienen dem Autor Leopold Ranke, Jacob Burckhardt und Hippolyte Taine. Müller nähert sich dem Kunstverständnis dieser Autoren auf doppelte Weise: Zum einen untersucht er vor allem jene Schriften, in denen sich die drei Historiker eingehender mit Ästhetik beschäftigten; zum anderen betrachtet er Diskurszusammenhänge, in denen sie diese Thematik erörterten. Während Rankes frühe Geschichtsschreibung von einem "ästhetischen Idealismus getragen" (94) gewesen sei, habe der späte Ranke Wissenschaft und Kunst als Mittel benutzt, um "die Restauration der Monarchie in der politischen Situation der 1850er Jahre zu unterstützen" (143). Burckhardts anfängliche Orientierung am "ästhetischen Realismus des Nachmärz" (192) sei später einem kulturkritischen "ästhetischen Humanismus" (207) gewichen. Taines Ästhetik sei von zunächst eher psychologischen (den menschlichen Geist auf äußere Umstände zurückführenden), später dann eher politischen Strategien einer Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung geprägt gewesen. Als prägende Diskurse stellt Müller die Bezüge Rankes zu dem Philosophen Heinrich Ritter und zu König Friedrich Wilhelm IV. her, weist auf die Kontakte Burckhardts zu Frank Kugler, Gottfried Kinkel, Friedrich Theodor Vischer, Gottfried Keller und Paul Heyse hin und legt Taines Beteiligung am intellektuellen Gesprächskreis im Pariser Restaurant "Magny", seinen Abwehrkampf gegen den Spiritualismus, die Bezüge auf Ernest Renan sowie seine Auseinandersetzung mit den "Gegenwartsdiagnosen" von Émile Boutmy und Paul Bourget dar.
Müller kann damit zum einen zeigen, dass "die Formen historiographischer Erzählung, die Ranke, Burckhardt und Taine in ihrer Geschichtsschreibung entwickelten und anwandten, voneinander abwichen und unterschiedliche Geschichtsdeutungen ermöglichten" (340). Zum anderen gelingt es ihm deutlich zu machen, dass seine Protagonisten ihre jeweilige Geschichtsauffassung in unterschiedlichen ästhetischen und disziplinären Entstehungskontexten entwickelten. Insofern löst der Verfasser sein gesetztes Ziel ein und zeigt die These von 'der' Orientierung 'der' Geschichtsschreibung an 'dem' Roman als zu vereinfachend aus.
Gleichwohl bleiben dem Leser mitunter Vorbehalte gegenüber Müllers Schlüssen, die letztlich auf einem Problem mit den Quellen seiner Untersuchung bzw. mit dem Umgang mit diesen beruhen. So findet man zwar etwa in Rankes Schriften durchaus Bemerkungen zur Ästhetik und zur Literaturgeschichte; aber explizite Hinweise darauf, inwiefern eine sich wandelnde ästhetische Auffassung Auswirkungen auf Änderungen von Rankes Geschichtsverständnis (oder anders herum) gehabt habe, gibt es so gut wie nicht. Überhaupt lässt sich kaum trennscharf zwischen 'Ästhetisieren' und 'Politisieren' unterscheiden. Das führt dazu, dass der Autor mitunter seine Erkenntnisse eher aus der Herstellung von Analogien, als aus der Untersuchung von Austauschprozessen gewinnt. So wird das politische Verständnis von Rankes später Geschichtsschreibung etwa mit dem "ästhetischen Politikverständnis Friedrich Wilhelms IV." in Verbindung gebracht. Unstrittig ist, dass Ranke sich seinem Monarchen eng verbunden fühlte und dessen Briefwechsel edierte. Einen Diskussionszusammenhang hat es jedoch zwischen beiden nicht gegeben; auch ist eine Anwendung der Theorien des Monarchen in Rankes Historiographie nicht explizit belegbar.
Müllers Arbeit wirkt daher in der Beschreibung von Ergebnisdetails mitunter konstruiert und ist sprachlich umständlich. In der Darlegung ihrer großen untersuchungsleitenden Thesen dagegen kann sie überzeugen und lädt zu einer näheren Beschäftigung mit den Wechselbeziehungen zwischen fachwissenschaftlicher Didaxe, politischer Darstellungsabsicht und literarischer Formgebung in der Geschichtsschreibung ein.
Stefan Jordan