Hermann-Josef Scheidgen: Der deutsche Katholizismus in der Revolution von 1848/49. Episkopat - Klerus - Laien - Vereine (= Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte; Bd. 27), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, XVII + 597 S., ISBN 978-3-412-20119-7, EUR 69,90
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Die Geschichte der Revolution von 1848/49 ist zugleich die Geschichte des politischen Aufschwungs des Katholizismus. Entgegen allen im März 1848 gehegten Erwartungen konnte die katholische Kirche nicht nur ihre staatlich verbürgten Privilegien erhalten, sondern errang zugleich die Unabhängigkeit von der staatlichen Bevormundung des Vormärz. Trotz dieser bemerkenswerten Erfolgsgeschichte hat die Revolutionsgeschichtsschreibung dem Katholizismus kaum größere Aufmerksamkeit gewidmet; die einschlägigen überregional angelegten Monographien von Franz Schnabel und Ludwig Bergsträsser stammen teilweise noch aus Kaisers Zeiten. [1] Wenn nun Hermann-Josef Scheidgen für sich in Anspruch nehmen kann, den deutschen Katholizismus der Revolutionszeit "erstmals [...] umfassend" (Umschlag) darzustellen, hängt dies sicherlich auch damit zusammen, dass ein derart vielfältiges Themenfeld mit reichlich archivalischer Kärrnerarbeit verbunden ist: Scheidgen hat dazu die Bestände von insgesamt 50 Archiven (inkl. des Vatikanischen Geheimarchivs) ausgewertet. Während sich ein zweiter Band etwa mit der Stellung der katholischen Theologie zur Revolution befassen soll, behandelt der Bonner Kirchenhistoriker in seiner vorliegenden Habilitationsschrift mit Episkopat, Klerus, Laien und Vereinen Aspekte des Katholizismus, die im Schnittfeld zur Sozialgeschichte liegen und an denen daher auch Nichtkirchenhistoriker ein größeres Interesse haben dürften.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage nach der "Beteiligung der Katholiken an der Revolution" einerseits und den "Auswirkungen der Märzfreiheiten auf den deutschen Katholizismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen" andererseits. (1) Erscheint die enge, eindimensional-gewaltfixierte Auslegung des Revolutionsbegriffs an dieser Stelle noch unproblematisch, weil auch die gewaltlosen Aktionsformen berücksichtigt werden sollen, wird sie zunehmend diskutabel, wenn Scheidgen darauf seine regionale Schwerpunktsetzung aufbaut; anstatt etwa eine typologisierende Auswahl zu treffen, beschränkt er sich auf Gebiete, "die katholisch geprägt waren und in denen es zu einer überdurchschnittlich hohen Zahl von revolutionären Handlungen kam". (32f.; Baden, die bayrische Pfalz, die preußische Rheinprovinz, Rheinhessen und Wien). Als habe es in den anderen Gebieten des Deutschen Bundes entweder keine Revolution (in den angeblichen "Zonen der Stille" Süddeutschlands) oder keine Katholiken (in den Diasporagebieten Norddeutschlands) gegeben, reduzieren diese Kriterien den Katholizismus der Revolutionszeit zu einer fast ausschließlich südwestdeutschen Angelegenheit. Das mag aus kirchenhistorischer Sicht zu rechtfertigen sein, den Katholizismus in seinen regional durchaus unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen historisch einzuordnen, erlaubt diese regionale Engführung jedoch nicht.
Nach einer ausführlichen vierfachen Einführung in die Thematik (7-73) gliedert sich die Arbeit in vier Hauptkapitel, die jeweils einen Träger des Katholizismus (Episkopat, Klerus, Laien und Vereine) und die verschiedenen Ausprägungen ihres Engagements (u.a. Bischofsversammlungen, "Katholikentage", Petitionen) behandeln. Abgerundet wird der Band durch ein Personen- und Ortsregister, ein Sachregister fehlt dagegen leider.
Im ersten Kapitel (75-195) veranschaulicht Scheidgen eindringlich die Stellung des deutschen und österreichischen Episkopats zur Revolution, indem er einerseits die Bischöfe idealtypisch einzelnen theologischen Richtungen zuordnet und andererseits ausführlich aus den Hirtenbriefen an Klerus und Laien zitiert. Die Vorbereitungen und der Verlauf der Würzburger und der Wiener Bischofskonferenzen werden ebenso minuziös geschildert wie später die so genannten Katholikentage. Im Gegensatz zu diesen überwiegend nacherzählenden Passagen überzeugt die Darstellung besonders an Stellen, an denen der Autor stattdessen vorhandene Unterschiede herausarbeitet (etwa zwischen den erwähnten Bischofskonferenzen, 187f.) oder sich kritisch mit Forschungsmeinungen auseinandersetzt. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang etwa die Darstellung des Engagements der Geistlichen im zweiten Kapitel (203-304); zwischen den klerikalen Forderungen nach Nationalkonzil oder Diözesansynoden auf der einen und der Ablehnung aller Märzerrungenschaften auf der anderen Seite eröffnet sich ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Meinungen, das einer undifferenzierten Etikettierung als "ultramontan" offensichtlich widerspricht. (250-252)
Im Gegensatz zum Klerus schildert Scheidgen das Verhalten der Laien anhand des Lebens berühmter, katholisch sozialisierter Revolutionäre, die jedoch - wie Robert Blum oder Johanna Kinkel - mit der Kirche gebrochen hatten. Daneben beschreibt der Autor die Einstellung und das Verhalten von sechs angeblich repräsentativen katholischen Protagonisten der Revolutionszeit. (3, 314-384) Nur: Für wen war denn etwa der außergewöhnliche Lebensweg Joseph Marias von Radowitz repräsentativ? An dieser Stelle hätte man sich ein paar Worte zu den Auswahlkriterien gewünscht, ebenso wie man im Zusammenhang mit den katholischen Petitionen, die den Wiener Reichstag und die Frankfurter Nationalversammlung erreichten, doch zumindest ein paar Zahlen erwartet hätte, wenn der Autor der alten These, wonach die Katholiken die meisten Petitionen nach Frankfurt geschickt hätten, schon so energisch widerspricht. (1, 385, Anm. 307)
Sehr unterschiedlich fällt auch das Kapitel über das Vereinswesen aus. (405-515) Der Abschnitt über die Piusvereine bietet außer einer detailreichen Schilderung ihrer Versammlungen kaum Neues, dafür aber einige Fehler: So waren die Piusvereine - wie alle politischen Vereine - weder "in der Regel Spiegelbilder der jeweiligen lokalen sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung" (491) noch wurde ihre "Verbreitung höchstens von den [...] Turnvereinen" (518) übertroffen. [2] Dagegen ist der Abschnitt zu den Frauenvereinen durchaus gelungen, wenngleich man auch hier einwenden mag, dass die Behauptung, Frauen hätten im Gegensatz zu den Piusvereinen in demokratischen Vereinen Mitglied werden dürfen, im Allgemeinen sicherlich unzutreffend ist. (531) Es beweist doch gerade die Komplexität der Revolution, wenn die Mitarbeit von Frauen in den tendenziell konservativeren Piusvereinen zumindest teilweise akzeptiert wurde, während ansonsten so 'fortschrittliche' Demokraten wie Friedrich Hecker dagegen die übelsten Vorbehalte kultivierten. [3] Überhaupt finden sich gerade an Stellen, die den revolutionären Kontext erläutern sollen, einige Irrtümer: So wurde - um nur das Beispiel Heckers aufzugreifen - der Mannheimer Jurist keineswegs in den 50er-Ausschuss gewählt noch führte er 1849 die badische Mairevolution an. (205, 319)
In einem abschließenden Abschnitt (517-538) fasst Scheidgen die wichtigsten Resultate seiner Arbeit noch einmal zusammen, ordnet sie in den größeren Kontext ein und stellt etwa die Unterschiede zum Protestantismus heraus. Gerade in der biographischen Vielfalt der Protagonisten zeigt sich dabei ein Facettenreichtum, der erklären kann, warum der Katholizismus als "moderne Bewegung gegen die Moderne" (Winfried Loth) zu einem der großen Profiteure der Revolution werden konnte. (538)
Fazit: Trotz einiger methodischer und kontextueller Schwächen liefert Scheidgens Darstellung einen guten Überblick über den Katholizismus der Revolutionszeit. Wenngleich sie auch ihren umfassenden Anspruch kaum erfüllen kann, ist sie den bisher vorliegenden Monographien vor allem wegen ihrer beeindruckend breiten Quellengrundlage deutlich vorzuziehen.
Anmerkungen:
[1] Franz Schnabel: Der Zusammenschluss des politischen Katholizismus in Deutschland im Jahre 1848, Heidelberg 1910; Ludwig Bergsträsser: Studien zur Vorgeschichte der Zentrumspartei, Tübingen 1910; Ders.: Der politische Katholizismus. Dokumente seiner Entstehung. 2 Bde. München 1921f.
[2] Zur sozialen Zusammensetzung der Piusvereine, vgl. etwa Rüdiger Hachtmann: Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Revolution von 1848/49, Tübingen 2002, 215f.; (vgl. die Rezension von Frank Engehausen, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 5; URL: http://www.sehepunkte.de/2003/05/1591.html). Die größte Vereinsorganisation der Revolutionszeit war mit über 500.000 Mitgliedern sicherlich der demokratische Zentralmärzverein.
[3] Vgl. ebd., 160.
Klaus Seidl