Antoine Fleury: Documents Diplomatiques Suisses - Diplomatische Dokumente der Schweiz - Documenti Diplomatici Svizzeri. Band 22: 1.7.1961 - 31.12.1963 (= Kommission für die Veröffentlichung diplomatischer Dokumente der Schweiz; Bd. 22), Zürich: Chronos Verlag 2009, 500 S., ISBN 978-3-0340-0966-9, EUR 50,00
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Bei der Editionsreihe Diplomatische Dokumente der Schweiz handelt es sich um die wichtigste und umfangreichste Quellensammlung zur Außenpolitik der Eidgenossenschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Zwischen 1979 und 1996 erschien zunächst eine fünfzehnbändige Sammlung für den Zeitraum 1848 bis 1945. Seit 1997 wird nun eine neue Reihe für die Jahre seit 1945 publiziert. Es soll hierbei "keine lückenlose Dokumentation außenpolitischer Ereignisse aus schweizerischer Sicht" erfolgen, sondern das Ziel der Editionsreihe besteht darin, "die Grundzüge, die Leitlinien und fundamentalen Gegebenheiten der internationalen Beziehungen der Schweiz" zu verdeutlichen (Vorwort, XII).
Als neutraler Kleinstaat in der Mitte Europas reflektiert die Außenpolitik der Schweiz in der Regel den jeweiligen Zustand der Staatenwelt. Zu Beginn der sechziger Jahre sahen sich die Diplomaten des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD) mit einer Vielzahl von Herauforderungen konfrontiert. Der Kalte Krieg befand sich einer Phase der Konfrontation. Nachdem die Berlin-Krise mit der Errichtung der Berliner Mauer ihren Höhepunkt erreicht hatte, diskutierten die Mitglieder der Schweizer Regierung am 15. September 1961 über die Kriegsgefahr in Europa und erörterten die in den Jahren 1914 und 1939 getroffenen Notfallmaßnahmen. Als neue Komponente stand nun allerdings das Schreckensszenario einer nuklearen Konfrontation im Mittelpunkt der Überlegungen. Anläßlich der jährlichen Berner Botschafterkonferenz berichtete der Schweizer Vertreter in Washington, August Rudolf Lindt, im Januar 1962, dass nach Ansicht der amerikanischen Regierung die Aussage des Generals von Clausewitz, wonach der Krieg die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln sei, im Atomzeitalter ihre Gültigkeit verloren habe. Die Relevanz dieser Einschätzung zeigte sich wenige Monate später in der Kuba-Krise. Die Schweiz vertrat seit Beginn des Jahres 1961 die Interessen der USA auf der Karibik-Insel und verfügte über gute Gesprächskontakte zu beiden Seiten. Aber auch auf dem europäischen Kontinent waren die "Guten Dienste" der Schweiz gefragt. So vermittelte die Eidgenossenschaft unter Leitung des Diplomaten Olivier Long bei den Gesprächen zur Beendigung des Krieges in Algerien, dessen Unabhängigkeit Frankreich im Vertrag von Evian am 18. März 1962 anerkannte. Im Gespräch mit dem schweizerischen Außenminister Friedrich Traugott Wahlen brachte der französische Präsident Charles de Gaulle seine Haltung auf den Punkt: "Frankreich braucht Algerien nicht." (60)
In der europäischen Politik verfolgte Großbritannien - das wichtigste Mitglied der European Free Trade Association (EFTA) - das Ziel eines Beitritts zur Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft. Auch die Schweiz überdachte nun ihr Verhältnis zur EWG und strebte - ebenso wie Österreich und Schweden - eine Form der Assoziierung an. In einem Brief an Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard in seiner Funktion als Vorsitzender des EWG-Ministerrats vom 15. Dezember 1961 erklärte Bundesrat Wahlen das Interesse seines Landes an einer Annäherung an die EWG und ersuchte um die Aufnahme von Verhandlungen. In einer Rede vor dem EWG-Ministerrat im September 1962 in Brüssel betonte Wahlen zudem das Ziel eines gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraums. Die berühmte Pressekonferenz de Gaulles vom 14. Januar 1963, in der der General den Beitritt Großbritanniens zur EWG ablehnte, wirkte sich indirekt auch auf die Assoziationsbestrebungen der Schweiz aus. Im Juli 1961 hatten sich die EFTA-Mitgliedsstaaten auf ein gemeinsames Vorgehen gegenüber der EWG geeinigt. Ohne die Vorreiterrolle Londons erschien der Schweiz eine Annäherung an die europäischen Institutionen wenig attraktiv. In der Folge wurde das Assoziationsgesuch gegenüber der EWG zwar offiziell aufrechterhalten, doch gleichzeitig fand eine Rückorientierung auf die EFTA statt. Wie die Eidgenossenschaft erkennen musste, konnte sie im Gegenzug für ihre "Guten Dienste" nicht mit einem Entgegenkommen in Sachfragen rechnen. Zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht wurden hingegen die Verhandlungen über einen Beitritt der Schweiz zum Europarat.
Im Bereich der bilateralen Beziehungen bereitete das Verhältnis zu Spanien Probleme. Während der Botschafter in Madrid in einem Bericht vom Oktober 1961 einerseits die Rolle Spaniens im Kampf gegen den Kommunismus hervorhob, verweigerte die Schweiz dem Franco-Regime andererseits die Akkreditierung eines Polizeiattachés an der spanischen Botschaft in Bern, dessen Aufgabe in der Überwachung spanischer Oppositioneller bestanden hätte. Die Schweiz mit ihrer republikanischen Tradition war in diesem Punkt besonders sensibel - schon zu Bismarcks Zeiten hatte die Aufnahme politischer Flüchtlinge zu Konflikten mit dem europäischen Ausland geführt. In einer internen Notiz des EPD vom August 1962 wurde betont, "dass in Spanien ein politisches System herrscht, welches unserer Auffassung über demokratische Freiheiten nicht entspricht" (213). Gegenüber der Regierung in Madrid wurde geltend gemacht, dass die Schweiz Überwachungsaktivitäten ausländischer Mächte auf ihrem Staatsgebiet nicht zustimmen könne, woraufhin Spanien das Akkreditierungsgesuch schließlich zurückzog.
Weitere Dokumente behandeln den Prozess der Dekolonialisierung und die Anfänge der Entwicklungszusammenarbeit, das Verhältnis zur UNO, Aspekte der Außenwirtschafts- und Finanzbeziehungen sowie als neues Themenfeld die Migrationspolitik. Mit dem Erscheinen von Band 22 endet die langjährige Tätigkeit von Antoine Fleury (Genf) als Leiter der Forschungsgruppe, für die zukünftig Sacha Zala (Bern) verantwortlich sein wird. Erweitert wird die neue Reihe durch die Internetdatenbank DoDiS (www.dodis.ch). Bei den Dokumenten der Druckfassung wird dabei auf weiterführende Quellen im Onlinebestand verwiesen. Die editorischen Anmerkungen sind im Hinblick auf zusätzliche inhaltliche Informationen vergleichsweise kurz gehalten, beinhalten in Verbindung mit dem Registerteil aber die für den Benutzer notwendigen Hinweise auf Personen, Daten und Quellenbestände.
Insgesamt bieten die Diplomatischen Dokumente der Schweiz (1.7.1961-31.12.1963) einen interessanten Einblick in die vielfältigen Aktivitäten eines neutralen Kleinstaats in den internationalen Beziehungen im Zeitalter des Kalten Krieges und könnten dazu beitragen, das bei deutschen Forschern und Studenten vergleichsweise geringe Interesse an der politischen Geschichte unseres Nachbarlandes zu erhöhen.
Philip Rosin