Jörg Treffke: Gustav Heinemann - Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biographie, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, 367 S., ISBN 978-3-506-76745-5, EUR 39,90
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Seit längerer Zeit war sie angekündigt, jetzt ist sie erschienen: Jörg Treffkes politische Biographie über Gustav Heinemann. Grundsätzlich ist dieses Vorhaben sehr zu begrüßen, liegen doch bisher lediglich über zwei Inhaber des höchsten Staatsamts wissenschaftliche Biographien vor, nämlich über Heinrich Lübke und Karl Carstens. Selbst der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, der für das Amt in hohem Maße stilbildend wirkte, ist bisher nicht Gegenstand einer großen biographischen Abhandlung gewesen, auch wenn glänzende, kürzere Porträts und andere Veröffentlichungen zu spezifischen Gesichtspunkten seiner Präsidentschaft existieren.
Umso erstaunter ist der Leser nach einem ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis der nun vorliegenden Heinemann-Biographie. Treffke widmet der Präsidentschaft seines "Helden" im achten Kapitel gerade einmal 25 Seiten, also nur rund zehn Prozent des Haupttextes. Noch dazu präsentiert er Heinemann schon nach weniger als 20 Seiten als "Altbundespräsidenten im Unruhestand", was auch einen Aussetzer in der ansonsten strengen chronologischen Abfolge bedeutet.
Das erste Erstaunen verwandelt sich nach der Durchsicht der Einleitung in Ratlosigkeit. Hier kündigt der Autor an, eine "parteipolitische" Biographie vorzulegen. Diese erhebe nicht den Anspruch, alle Phasen der beruflichen und politischen Laufbahn Heinemanns abzudecken. So sollen seine Jahre als Bundesinnen- und Bundesjustizminister sowie als Bundespräsident nur "am Rande" (12) angeschnitten werden. Ein solches Projekt kollidiert natürlich mit dem Untertitel der Arbeit, der eine politische Biographie verspricht, von der erwartet wird, dass sie gerade diese Phasen einer kritischen und ausführlichen Untersuchung unterzieht. Insoweit liegt - das harte Wort sei dem Rezensenten nachgesehen - eine Mogelpackung vor.
Allerdings verfügt die Biographie auch über große Vorzüge. Dazu gehört unter anderem, dass der Verfasser sein Werk auf der Basis zahlreicher ungedruckter Quellen geschrieben hat. Sein Studium des Archivmaterials ist ohne Zweifel positiv zu vermerken. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Bei der Beschreibung der Quellenlage weist Treffke darauf hin, dass die Akten des Bundespräsidialamts geholfen hätten, Heinemanns Jahre als Staatsoberhaupt nachzuzeichnen. Aber die Durchsicht der Anmerkungen zum achten Kapitel ergibt, dass nur ein einziges Dokument aus dem Bestand Bundespräsidialamt im Bundesarchiv in Koblenz herangezogen wurde. Das ist enttäuschend. Nicht zuletzt wurde damit eine große Chance vertan, denn die Akten aus den Jahren der Präsidentschaft Heinemanns unterliegen eben nicht mehr der 30-Jahres-Sperrfrist und hätten vermutlich eine erhebliche Bereicherung dargestellt. "Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den [...] Drahtzieher zeigt, sollte daran denken, daß [...] zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen." Diesen wunderbaren Ausspruch Heinemanns zitiert Treffke auf Seite 202, und er ist sicher auch in diesem Fall anwendbar. Dennoch muss das beschriebene Manko konstatiert werden.
Zu den besten Abschnitten dieses Werkes zählt das (vierte) Kapitel über Heinemann und das 'Dritte Reich'. Völlig zu Recht räumt Treffke mit dem Mythos auf, Heinemann sei als Mitglied der Bekennenden Kirche ein aktiver Widerstandskämpfer gewesen. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er die Auffassung vertritt, Heinemanns Weg der "beschränkte[n] Kooperation" mit dem NS-Regime sei diesem "aus nicht immer nachvollziehbaren Gründen" (75) - im Gegensatz etwa zu Kurt Georg Kiesinger oder Karl Carstens - später nicht mehr vorgehalten worden. Präzise kommt Treffke zu folgender Einschätzung: "Sein Widerstand galt ausschließlich dem Alleinherrschaftsanspruch der Deutschen Christen, nicht dem der Nationalsozialisten. Es sollten kirchliche Verhältnisse geändert werden, nicht staatliche." (85) Dabei geht es ihm überhaupt nicht darum, Heinemann in irgendeiner Weise zu beschädigen. So macht er deutlich, dass Heinemann mit seinem Engagement für die Bekennende Kirche durchaus ein "gewisses persönliches Risiko" (79) einging. Doch letztlich kommt er zu einem differenzierten Urteil, das besonders erfreulich ist, weil es eben darum geht, der historischen Realität möglichst nahe zu kommen.
Gut gelungen ist schließlich auch das sechste Kapitel, das sich mit der Gründung der Gesamtdeutschen Volkspartei durch Heinemann und ihrem raschen Niedergang beschäftigt. Die Frage, ob sie finanzielle Unterstützung aus dem Osten Deutschlands erhielt, wird unmissverständlich bejaht. Zum einen sicherte das Zusammengehen mit dem in jeder Hinsicht verdächtigen Bund der Deutschen finanzielle Zuwendungen, zum anderen flossen Gelder von der KPD an die GVP. Wusste auch Heinemann von diesen dubiosen Machenschaften? Treffke stellt fest, es sei kaum vorstellbar, dass er nicht informiert gewesen sei: "Anscheinend war Heinemann bereit, sich in die Abhängigkeit der DDR-Machthaber zu begeben, um sein politisches Projekt nicht vorzeitig scheitern zu sehen." (148 f.) Ein erfreulich klares Urteil.
Ausführlich beschäftigt sich Treffke mit den Gründen für die Demission Heinemanns vom Amt des Bundesinnenministers im Oktober 1950. Es greift jedoch zu kurz, die Tätigkeit des ersten Innenministers der jungen Bundesrepublik Deutschland auf den Konflikt mit Konrad Adenauer zu konzentrieren. Gerne hätte man mehr erfahren, zum Beispiel, wie er das Ministerium organisierte, welche besonderen Probleme sich in der Aufbauphase stellten, wie er mit der Einstellung politisch belasteter Personen umging. Auch die maßgeblichen Reformprojekte des Bundesjustizministers Heinemann in den Jahren von 1966 bis 1969 - deren Bedeutung Treffke zutreffend hoch veranschlagt - werden auf gerade einmal sieben Seiten viel zu kursorisch behandelt.
Arg enttäuscht wird der Leser dann mit dem kurzen Abschnitt über die fünfjährige Präsidentschaft Heinemanns. Schon vor über zwanzig Jahren hat Wolfgang Jäger dazu im fünften Band der "Geschichte der Bundesrepublik" ähnliche Informationen gegeben. Dahinter fast noch zurückzufallen, kann nicht als eigenständige Forschungsleistung bezeichnet werden. Das Amtsverständnis des dritten Bundespräsidenten wird nur oberflächlich untersucht, und schon gar nicht im Vergleich mit den anderen Amtsinhabern. Keine Rede Heinemanns wird genauer analysiert, und die Frage, inwieweit er mit seinen öffentlichen Äußerungen den "Machtwechsel" von 1969 begleitete oder förderte, nur am Rande thematisiert.
Fazit: Es ist völlig legitim, eine "parteipolitische" Biographie zu schreiben; schließlich gehörte Heinemann im Laufe seiner bewegten politischen Karriere fünf verschiedenen Parteien an und eignet sich somit bestens dazu. Es ist aber nicht legitim, dann eine politische Biographie anzukündigen. So liegt eine Arbeit vor, die in Teilen sehr zu überzeugen weiß, in anderen wiederum deutlich weniger. Die Schwäche liegt in der Regel nicht in dem, was geschrieben, sondern in dem, was alles nicht behandelt wurde. Gleichwohl hat sich Treffke mit konzisen, abgewogenen Urteilen über wichtige Probleme im Zusammenhang mit der Biographie Heinemanns verdient gemacht.
Tim Szatkowski