Stefan Schmidt: Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914. Ein Beitrag zur Geschichte des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges (= Pariser Historische Studien; Bd. 90), München: Oldenbourg 2009, 434 S., ISBN 978-3-486-59016-6, EUR 49,80
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"Minor player" [1] oder "forgotten belligerent of July 1914" [2] das sind die Attribute, die Frankreichs Anteil am Ausbruch des Ersten Weltkriegs gern zugedacht werden. Stefan Schmidt nimmt sich in seinem Werk vor, diese Einschätzungen zu überprüfen. Er geht dieses Vorhaben an, in dem er sich schon im Titel auf einen kurzen Zeitraum - die Julikrise - und auf die Außenpolitik Frankreichs zu beschränken verspricht. Die wenigen Arbeiten zu diesem eng fokussierten Teilbereich der Kriegsausbruchsgeschichte sind überwiegend älteren Datums: Schmidts Buch, am Deutschen Historischen Institut in Paris entstanden, füllt allein schon unter diesem Aspekt eine Forschungslücke. Zudem kamen die älteren Werke zu keinem übereinstimmenden Ergebnis in der Einschätzung der Rolle Frankreichs beim Kriegsausbruch. Stefan Schmidt fragt, "welchen Kurs die französische Außenpolitik im Juli 1914 überhaupt steuerte", ob Frankreich den Kriegsausbruch zu verhindern suchte, ob es den Krieg schließlich als Angriffs-, Präventiv- oder Defensivkrieg geführt hat (13), und schließlich, ob der Anteil Frankreichs am Ausbruch des Ersten Weltkriegs wirklich nur der eines "minor players" war.
Schmidt unterteilt die kurze Zeitspanne vom Attentat in Sarajewo (28. Juni) bis zur Kriegserklärung Englands an das Deutsche Reich (4. August) in drei chronologisch gestaffelte Kapitel, die drei Phasen der eskalierenden Julikrise umfassen. Er stellt die französische Zusicherung des unbegrenzten Beistands an Russland vor, eine Entscheidung, die innerhalb der französischen Führung durchaus nicht unumstritten war (95). Im weiteren Verlauf der Krise erkennt Schmidt eine französische Doppelstrategie. Dem Bemühen um einen friedlichen Ausgleich habe der Versuch gegenüber gestanden, Frankreich in die bestmögliche Ausgangsposition für einen Krieg zu bringen (289). Der Rüstungswettlauf mit dem Deutschen Reich sei für Frankreich nicht mehr zu gewinnen gewesen, das Potential ausgeschöpft. Die Sorge gegenüber Deutschland in Rüstungsrückstand zu geraten und die "absurde Furcht" [3] den russischen Verbündeten zu verlieren, weil Russlands Kraft enorm zu wachsen schien und das Zarenreich sich allein stark genug fühlen könnte, beherrschte das Denken. Zu einer Annäherung an Deutschland fand man sich hingegen nicht bereit - die öffentliche Meinung in Frankreich habe diese politische Option nicht zugelassen (285) und Präsident Poincaré sei ohnehin ein entschlossener Gegner eines Abbaus der Spannungen mit Deutschland gewesen. Nach dem befürchteten Verlust des als unersetzlich betrachteten Partners Russland wäre Frankreich dann "isolé, disqualifié et diminué" gewesen (372). In der letzten Phase schließlich setzte sich die Einschätzung durch, dass der große Krieg unvermeidlich geworden sei (313). Jetzt habe es für die französische Politik gegolten, den bevorstehenden Krieg unter bestmöglichen Voraussetzungen führen zu können und zu erreichen, dass der in der Entente Cordiale verbundene Partner Großbritannien auf Seiten Frankreichs in den Krieg eintreten würde.
Den mit Abstand größten Raum in der Darstellung nimmt ein weiteres, nicht durch Daten begrenztes Kapitel ein: "Zur Motivlage" überschreibt es der Autor. Sich selbst zur Einhaltung des Titels zwingend, analysiert er die Rolle, die die beteiligten Großmächte Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn im außen- und militärisch-strategischen Kalkül Frankreichs spielten streng aus der Sicht Frankreichs. Interessant auch die Beurteilung Wilhelms II., dessen Friedensliebe in Frankreich bekannt gewesen sei, man sich allerdings zunehmend besorgt gefragt habe, ob denn der Kaiser noch über genügend Widerstandskraft gegen die Kriegstreiber im eigenen Lande verfügte (215), was die Thesen John C. G. Röhls zum deutschen Monarchen zumindest nicht stützt. Es gelingt Schmidt, dem Leser in diesem thematischen Block die wesentlichen außenpolitischen Handlungsstränge vorzustellen und ihre Aufnahme und Folgen für die französische Politik zu erläutern. Zusammen mit einer knappen Präsentation der militärischen Planungen der europäischen Großmächte entwickelt Schmidt ein hochinformatives Bild der sicherheits- und bündnispolitischen Einschätzungen der Hauptakteure jener Zeit.
Frankreich habe sich nach der Entscheidung für eine militärische Strategie der "offensive à outrance" (157) in große Abhängigkeit von militärischen Sachzwängen begeben. Die französische Mobilmachung musste entweder schneller ablaufen als die deutsche, oder früher beginnen (343). Die letztere Option hätte allerdings Frankreich mit dem Odium des Aggressors belastet und sei deswegen verworfen worden. Es sei gelungen, die Mobilmachung so geschickt einzuleiten, dass sie als Reaktion auf deutsche Maßnahmen dargestellt werden konnte. Das eigene Land sei so zu erwartenden militärischen Nachteilen ausgesetzt, der politische Gewinn aber eingefahren worden. Die Bereitschaft, die belgische und luxemburgische Neutralität um eines militärischen Vorteils willen zu verletzen, war auch in Frankreich vorhanden (158). Dennoch sei die Entscheidung trotz massivsten Drucks des französischen Generalstabs gegen den Neutralitätsbruch gefallen, letztlich, weil "militärische und politische Staatsraison" (162) die britische Unterstützung für unverzichtbar gehalten hätten: Der politische Primat blieb demnach gewahrt. Dennoch habe die französische Offensivstrategie den außenpolitischen Spielraum Frankreichs erheblich eingeengt. Denn sie verlangte unverzichtbar den russischen Alliierten, der möglichst schnell durch massive Militärschläge für Entlastung sorgen musste: der drohende Zwei-Fronten-Krieg sollte Deutschlands Angriffspotential schwächen. Enorme französische Gelder flossen zu diesem Zweck in den Aufbau einer militärisch nutzbaren Infrastruktur im Westen Russlands und verschärften so die Bedrohung Deutschlands. In der eskalierenden Julikrise musste als Folge seiner Militärstrategie, so Schmidt, Frankreich den russischen Verbündeten zur schnellen Mobilmachung drängen. Das Versprechen Poincarés im Ernstfall die Bündnispflicht gegenüber Russland zu erfüllen, sei so zu erklären. Militärische Sachzwänge als Krisenbeschleuniger konstatiert Stefan Schmidt also auch in Frankreich.
Militärische Sachzwänge, Offensivkult, politische und militärische Fehleinschätzungen sowie ein übersteigertes Großmachtprestige kennzeichnen Frankreichs Weg in den Großen Krieg. Auch wenn die französischen militärischen Planungen durchaus offensiv gewesen seien, auch wenn Frankreich den russischen Verbündeten nicht zurückgehalten sondern eher angetrieben habe, dennoch erkennt Stefan Schmidt keine Anzeichen für einen Angriffs- oder Präventivkrieg Frankreichs - aber eben auch keine Zwangsläufigkeit der politischen Lage, die unvermeidbar in den Großen Krieg münden musste. Seine Forschung belegt, dass Frankreichs Anteil am Kriegsausbruch größer war als man einem "minor player" zugestehen würde.
Der Autor schreibt stilsicher und gut lesbar, formuliert allerdings gelegentlich unpräzise, sodass erst beim erneuten Lesen klar wird, ob er beispielsweise gerade den französischen oder den deutschen Generalstab meint (228). Wenn er in einer längeren Passage außenpolitisches Denken und Handeln generell analysiert, wäre es im Interesse der Verständlichkeit hilfreich, dies am konkreten Beispiel fest zu machen und zu benennen, wer denn da denkt oder handelt.
Stefan Schmidts Werk ist ein gelungener und lesenswerter Beitrag zur Geschichte des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs - nicht zuletzt, weil er so viel mehr bietet, als er im Titel verspricht!
Anmerkungen:
[1] Kiesling, Eugenia C.: France. In: Hamilton, Richard F. / Herbig, Holger H. (eds.): The Origins of World War I., Cambridge 2003, 227.
[2] Langdon, John W.: July 1914. The long debate 1918-1990, Oxford 1991, 165.
[3] Neitzel, Sönke: Kriegsausbruch. München 2002, 159.
Günter Rutke