Georg Scheibelreiter: Wappenbild und Verwandtschaftsgeflecht. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Forschungen zu Heraldik und Genealogie (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband; Bd. 53), München: Oldenbourg 2009, 352 S., ISBN 978-3-486-58935-1, EUR 49,00
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Georg Scheibelreiter, der zur Zeit im deutschen Sprachraum der vielleicht profilierteste wissenschaftliche Forscher auf dem Gebiet der Heraldik ist, legt mit dem vorliegenden Band eine Zusammenstellung seiner Beiträge vor, die bereits an anderer Stelle publiziert wurden.
Die 18 Texte lassen sich in vier Gruppen ordnen: Am Anfang steht (nach dem Vorwort des Verfassers) mit "Heraldik als Geschichtsquelle. Einige grundsätzliche Überlegungen" (9 - 16; Erstpublikation: in Vorbereitung) eine der vielleicht pointiertesten Standortbestimmungen der wissenschaftlich betriebenen Heraldik.
Es folgen fünf Beiträge zur Frühgeschichte der Heraldik und zur Mentalität, insbesondere des mittelalterlichen Adels. Scheibelreiter sieht parallel zur Entstehung der Heraldik einen tiefgreifenden Umbruch in der mittelalterlichen Gesellschaft, der um 1100 anzusetzen ist. Waren vorher, trotz Christianisierung, noch im Kern antike bzw. heidnische Auffassungen vorhanden, teilweise sogar bestimmend, setzt nun, nicht zuletzt durch die Konfrontation mit der morgenländischen Welt im Zuge der Kreuzzüge, eine Neufindung und -bestimmung des Adels ein, in deren Zuge sich auch die Heraldik als Medium der Eigen- und Gruppenidentifikation formiert.
Auf den Überblick "Wappen und protoheraldische Zeichen. Einige Betrachtungen zum Wandel der mittelalterlichen Mentalität" (17 - 29; Erstpublikation in spanischer Übersetzung in Vorbereitung) folgen mit "Das Tier als Symbolträger in vorheraldischer Zeit (bis ca. 1230)" (31 - 41; Erstpublikation 1983), "Tiersymbolik und Wappen im Mittelalter: Grundsätzliche Überlegungen" (43 - 56; Erstpublikation 2007), "Adler und Löwe als heraldische Symbole und im Naturverständnis des Mittelalters" (57 - 71; Erstpublikation 1997), sowie "Religiöse Mentalität und symbolisches Zeichen" (73 - 81; Erstpublikation 1999) Spezialuntersuchungen zur Tiersymbolik. Gerade hier zeigen sich am deutlichsten die Unterschiede zwischen der Symbolauffassung der präheraldischen und der "modernen" heraldischen Zeit ab ca. 1100.
Es schließt sich eine Gruppe von Beiträgen an, die sich im weiteren Sinne vor allem um die Konstruktion der eigenen Abstammung bzw. der Gruppenetablierung und -versicherung stehen. Im Zentrum von "Höfisches Geschichtsverständnis. Neuf Preux und Neuf Preuses als Sinnbilder adeliger Weltsicht" (83 - 121; Erstpublikation 2006) stehen etwa die Komplexe der neun (guten) Helden und Heldinnen; "Wappen und adeliges Selbstverständnis im Mittelalter" (123-141; Erstpublikation 2006) versucht ebenso wie "Das Wappen der Anjou-Plantagenêts als Symbol ihres Selbstverständnisses" (143 - 161; Erstpublikation 1988) Gründen nachzugehen, die Familien zur Wahl eines bestimmten Wappenbildes (oder dessen Veränderung) veranlassten. "Die Wappenreihe der österreichischen Fabelfürsten in der so genannten Chronik von den 95 Herrschaften" (um 1390) (163 - 176; Erstpublikation 1998) und "Der Babenberger-Stammbaum aus Klosterneuburg. Rückwärtsgewandte Heraldik als Chiffre historischen Geschehens" (177 - 199; Erstpublikation 2006) weisen am Beispiel Österreichs auf, wie man im Spätmittelalter versuchte, bestimmte Legitimationslinien auch anhand von (erfundenen wie uminterpretierten) Wappenbildern zu konstruieren. "Mythische Genealogie und Fabelheraldik. Merowingisches und Französisches Königtum" (201 - 228; Erstpublikation 2008) gelingt ähnliches in Bezug für den französischen Raum.
Die Beiträge "Zunamen und Wappen. Die Anfänge des agnatischen Bewusstseins" (229 - 244; Erstpublikation 2006), "Namengebung und Genealogie im Mittelalter, Tradition und gesellschaftlicher Wandel" (245 - 257; Erstpublikation 2000), sowie "Anthroponymie, Symbolik und Selbstverständnis" (259 - 273; Erstpublikation 1997) stellen Zusammenhänge zwischen Mentalität, Genealogie, Symbolik und Heraldik im Spiegel der (Adels-)namen her.
Schließlich stellt der Beitrag "Genealogie" (275 - 286; Erstpublikation 1997) überblicksartig verschiedene germanische Abstammungslinien (für die Germanen nach Tacitus, sowie Amaler, Langobarden und Merowinger) vor.
Gerade in den Beiträgen zur Fabelheraldik finden sich die wertvollsten Materialien des Bandes. In den Fallbeispielen aus dem österreichischen, englischen und französischen Raum gelingt es Scheibelreiter überzeugend, Heraldik und Mentalitätsgeschichte miteinander zu verbinden.
Schließlich folgen zwei eher allgemein gehaltene Beiträge: "Zur Typologie und Kritik genealogischer Quellen" (287 - 310; Erstpublikation 1992), sowie "Wien als Zentrum der historischen Hilfswissenschaften" (311-321; Erstpublikation 2006). Letzterer Beitrag, konsequent aus der Sicht eines Vertreters der "kleineren" Hilfswissenschaften geschrieben, kann durchaus als Plädoyer für den Gesamtkanon der Historischen Hilfswissenschaften verstanden werden, wie er zur Zeit durch universitäre Realitäten mehr und mehr in Frage gestellt scheint.
Ein gemeinsames Literaturverzeichnis sowie ein Verzeichnis der Erstpublikationen beenden den Band.
Dass sich hier Beiträge unterschiedlicher Jahre und Provenienz, aber zu denselben Themenkomplexen vereinigt finden, bringt freilich nicht nur Vorteile. So werden - durch den Untersuchungszeitraum fast zwangsläufig - bestimmte heraldisch-genealogischen Fallbeispiele mehrfach vorgestellt. Seien es die Merowinger, Welfen, Anjou-Plantagênets, aber auch die vor allem Spezialisten bekannten Familien de Clare, de Lucy oder die Grafen von St. Pol: sie alle werden in unterschiedlicher Intensität in nahezu allen Beiträgen angeführt und diskutiert. Was im ursprünglichen Publikationskontext sinnvoll und notwendig ist, erweist sich in der Zusammenschau oft als ermüdende Wiederholung. Ein Personen- und Sachregister, das gerade hier die Arbeit deutlich erleichtern würde, sucht man leider vergeblich.
Ähnliches gilt für die Abbildungen. So werden die Wappensiegel der Grafen von St. Pol oder der Familien de Clare und de Lucy in fast allen Beiträgen erwähnt und beschrieben - Abbildungen dazu finden sich erst auf Seite 241ff. Hier hätte man sich konsequente Verweise gewünscht.
Freilich würde sich bei einer solchen Forderung automatisch die Frage stellen, inwieweit Eingriffe in bereits gedruckte Artikel sinnvoll wären - der gedankliche Schritt zu einer (sicher weniger Platz beanspruchenden) Monographie wäre dann nur noch ein geringer.
Diese Mängel, zu denen sich editorische Kleinigkeiten gesellen (etwa wurde es versäumt, im Vorwort zu erwähnen, dass die ursprünglichen Seitenumbrüche im Fließtext durch "/" angegeben werden) sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Band in seiner Zusammenstellung wertvolles Material bereithält, das ansonsten nur mühsam zu eruieren und besorgen gewesen wäre. Gerade wegen seiner weit über die engere Heraldik und Genealogie hinausgreifenden Ansätze sei er insofern empfohlen.
Friedrich Ulf Röhrer-Ertl