Sabine Haag / Elke Oberthaler / Sabine Pénot (Hgg.): Vermeer - Die Malkunst. Spurensicherung an einem Meisterwerk, St. Pölten: Residenz-Verlag 2010, 355 S., ISBN 978-3-7017-3187-9, EUR 35,00
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Was macht ein Bild zu einem Bild? Welche Elemente definieren es als ein solches? Die Malweise, das Motiv, die Komposition oder die dargestellten Gegenstände? Eine Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien (26. Januar bis 25. April 2010) widmet sich mit einem Hauptwerk ihrer Sammlung, Johannes Vermeers Malkunst, dieser Frage. Die Ausstellung setzt sich zum Ziel, "die einzelnen Elemente des Bildes, angefangen vom Maler und seinem Modell bis hin zu den Einrichtungsgegenständen des Raumes und der prominent abgebildeten Landkarte" (15) als reale Objekte rund um das Gemälde zu versammeln. Beabsichtigt ist damit, "in gewisser Weise der ursprünglichen Intention des Bildes und seines Schöpfers gerecht zu werden: Als Schaustück in Vermeers Atelier war das Meisterwerk dazu bestimmt, als herausragendes Zeugnis seiner Kunst von potentiellen Käufern und Kennern genau betrachtet und bewundert zu werden." (9)
Entsprechend findet der Ausstellungsbesucher eine Art Werkstattsituation mit Materialia aus dem Gemälde vor, darunter ein Schlitzwams, eine Naturtrompete, einen zeitgenössischen Kronleuchter und eine Verdüre, aber auch eine Camera Obscura-Demonstration, moderne, von der Malkunst beeinflusste Kunstwerke sowie gemäldetechnische Angaben. Ähnliches dürfte auch ein Besucher der Werkstatt Vermeers vorgefunden haben und anhand vergleichbarer Requisiten hat wohl der Maler selbst - wie man aus Quellen weiß - Besuchern seines Ateliers neben "einigen Mustern seiner Kunst" und Werken anderer Künstler auch seine Malweise und "die Perspektive" erläutert.
Was macht ein Bild zu einem Bild? Die Summe der Bildgegenstände? Diese leicht naiv anmutende Antwort postulieren Ausstellung und Katalog - und kommen damit in erfrischender Weise dem sehr nahe, was Vermeers Gemälde unter anderem ausmacht: Es ist eines der Charakteristika seiner Kunst, die einzelnen Bildobjekte programmatisch zu unterkodieren und sie so für eine semantische Aufladung durch den Betrachter zu öffnen.
Machen die Rekonstruktion der Maltechnik oder die Antworten, die spätere Künstler einem Werk entlocken, das Wesen des Bildes aus? Ausstellung und Katalog beantworten auch diese Fragen positiv und zeigen so dem Besucher einerseits die Bedeutung technologischer Untersuchungen (die seit den 1990er-Jahren einen neuen Hauptzweig der Betrachtung von Vermeers Gemälden bildet), andererseits wie zentral Rezeptionswerke der jüngsten Zeit die aktuelle Deutung eines Kunstwerkes mitbestimmen.
Sabine Pénot, gemeinsam mit Elke Oberthaler Kuratorin der Ausstellung, fasst die bisher in der Literatur diskutierten Haupt-'Problemzonen' der Malkunst pointiert zusammen: Hat sich Vermeer in Gestalt des Malers selbst dargestellt? Handelt es sich um eine reale Szene oder eine Allegorie? Und: Wird ein Mädchen porträtiert oder eine Muse gemalt? Pénots Resümee orientiert sich an den einzelnen Realia des Gemäldes, was auch insofern Sinn macht, als gerade die Landkarte, der Leuchter oder der Gipsabguss eines Gesichtes auf dem Tisch Gegenstand zahlreicher Interpretationsversuche waren. Eine neue inhaltliche Gesamtdeutung des Werkes wagt Pénot - wie Arthur Wheelock in seinem einführenden Essay - nicht, dafür schlägt sie für den Gipsabguss eine Neuinterpretation als Apoll von Belvedere vor. Der Lichtgott und Musenführer entspricht zwar dem Bildthema 'Maler malt Muse im Licht', doch mit Blick auf die eklatanten Differenzen zwischen dem jugendlichen, scharf geschnittenen Gesicht des Apoll und dem fleischigen, modulierten Kopf in der Malkunst vermag diese Identifizierung letztlich nicht zu überzeugen.
In den weiteren Katalogbeiträgen werden die Rezeptionsgeschichte des Bildes, erkenntnisreiche Detailuntersuchungen zu Einzelgegenständen (Landkarte und Schlitzwams) sowie die angesprochenen technologischen Untersuchungen präsentiert. Ein Beitrag widmet sich Johann Rudolph Graf Czernin, der die Malkunst als vermeintlichen Pieter de Hooch im Mai 1804 für 50 fl. ersteigerte. Dieser Text ist insofern von Bedeutung, als die Malkunst seit September 2009 im Zentrum eines Rückstellungsverfahrens seitens der Nachkommen der Familie Czernin steht. Gerade im Zusammenhang mit der Provenienzforschung hätte man gerne auch genauere Details zum "Verkauf" (74) des Gemäldes 1940 an das geplante "Führermuseum" in Linz erfahren. Hervorhebung verdient zudem Eva Mongi-Vollmers souveräner Beitrag, in dem die Autorin die vehemente Abneigung Jacob Burckhardts dem Maler und seinem Hauptwerk gegenüber - er konnte in der Muse nur die "bekannte, seelenlose Gans" (107) erkennen - glaubwürdig in die Ästhetik des Basler Kunsthistorikers einordnet.
Breiten Rahmen findet in Ausstellung und Katalog die Rezeption des Werkes in der Gegenwartskunst. Mit Werken von Saskia de Boer, Donald Celender, George Deem oder Gerhard Gutruf, die Vermeers Malkunst im Sinne der Appropriation Art paraphrasieren, gelingen spannende Antworten auf das Referenzgemälde. Insbesondere überzeugt Sophie Matisses The Art of Painting von 1999, eine trompe l'œil-artige Kopie der Malkunst, in der die Bildakteure - Muse und Maler - weggelassen sind. Um die beiden Protagonisten des Bildes drehen sich auch der Videobeitrag von Maria Lassnig (ein Zeichentrickfilm von 1976) und eine Filmsequenz aus Peter Greenaways A Zed & Two Noughts von 1986, die ironisierend die Geschlechterrollen der Malkunst thematisieren. Programmatisch ist die Entscheidung der Kuratorinnen, der Malkunst keine Werke von Zeitgenossen Vermeers, insbesondere Atelierdarstellungen, gegenüberzustellen. [1]
Die ausführlich behandelten technologischen Resultate liefern neben faszinierenden Einblicken in die Maltechnik Vermeers auch spektakuläre neue Erkenntnisse für die Malkunst: die Entdeckung einer Jahreszahl rechts neben der Signatur (welche aber nicht eindeutig als 1666 oder 1668 entziffert werden kann) sowie die Bestimmung eines Punktes auf der Leinwand, der als Fluchtpunkt für den Schemel des Malers diente. Zudem konnten erstmals (im überzeugenden Beitrag von Robert Wald) die mutmaßliche Reihenfolge, in der Vermeer die Gegenstände im Bild malte, sowie feine schwarze Umrisslinien von Unterzeichnungen aufgewiesen werden.
Ausstellung und Katalog waren als Forschungsüberblick und vertiefende Einsicht in ein höchstrangiges Einzelwerk gedacht. Die Eingrenzung des Interessensfokus' auf die Analyse der Bildgegenstände - wie sie in programmatischer Weise das 'protagonistenfreie' Bild von Sophie Matisse zu Ausstellungsbeginn ankündigt -, die aktuellsten Restaurierungsergebnisse sowie die Gegenüberstellung mit Rezeptionswerken des 20. Jahrhunderts ist damit als durchaus gerechtfertigt anzusehen. Die Scheu vor einer Rückbindung der beachtlichen Einzelergebnisse an den Ausgangspunkt der Ausstellung, Vermeers Malkunst, und das Absehen von einem neuen Gesamtdeutungsversuch des Gemäldes sind in diesem Sinn als Gewinn zu verbuchen. Ob man dabei tatsächlich "der ursprünglichen Intention des Bildes und seines Schöpfers gerecht" wird, bleibt eine Frage, die jeder anders beantworten wird, je nachdem, was für ihn ein Bild zu einem Bild macht. Insofern spiegelt sich die bewusst intendierte "ikonische Indifferenziertheit" (Daniel Arrasse) der Gemälde Vermeers in der interpretatorischen Reserve von Ausstellung und Katalog zur Malkunst.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu Katja Kleinert: Atelierdarstellungen in der niederländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts - realistisches Abbild oder glaubwürdiger Schein?, Petersberg 2006.
Thierry Greub