Andreas Prater: Vermeer und Epikur. Lebenslust in der Kunst der Frühaufklärung, Berlin: De Gruyter 2021, 193 S., 74 Abb., ISBN 978-3-11-068289-2, EUR 39,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Sara Hornäk: Spinoza und Vermeer. Immanenz in Philosophie und Malerei, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004
Nils Büttner: Vermeer, München: C.H.Beck 2010
Sabine Haag / Elke Oberthaler / Sabine Pénot (Hgg.): Vermeer - Die Malkunst. Spurensicherung an einem Meisterwerk, St. Pölten: Residenz-Verlag 2010
Bei seinem zweiten Besuch in Jan Vermeers Atelier in Delft im Juni 1669 notierte Pieter Teding van Berkhout, ein angesehenes Mitglied der Den Haager Regentenkreise, der Maler habe ihm Proben seiner Kunst gezeigt, deren "außergewöhnlichster und überraschendster Aspekt in der Perspektive bestand" (quelques echantillons de son art dont la partie la plus extraordinaijre et la plus curieuse consiste dans la perspective). [1] Laut Van Berkhout lag die auffallendste Besonderheit der Kunst Vermeers demnach nicht etwa in der Beherrschung des Lichtes, der transzendierenden Malweise mittels Lichtpunkten oder dem Einsatz von Figurenkonstellationen, sie lag "in der Perspektive".
Auch wenn die Forschung dem Delfter mittlerweile eine hohe Meisterschaft in der Beherrschung der Perspektive attestiert, ließe sich diese ohne Van Berkhouts Reisenotiz kaum als oberstes Beurteilungskriterium Vermeerscher Kunst in Anschlag bringen. [2] Abgesehen davon, dass offenbleiben muss, was genau Van Berckhout unter "Perspektive" verstand und auf welche Werke er sich bezog, kann seine so überraschende wie irritierende Beurteilung der Besonderheit Vermeers auch als Warnung vor vorschnellen Verurteilungen ungewohnter, ganzheitlich-philosophischer Sichtweisen auf den Delfter dienen, wie sie insbesondere Mitte der 2000er-Jahre in Mode waren und jetzt mit Andreas Praters letztem Buch eine gewichtige Fortführung erhalten. Hatten Hubertus Schlenke und (überzeugender) Sara Hornäk den Versuch unternommen, Vermeers Bildwelt mit Spinozas Immanenzphilosophie in Bezug zu setzen, so gab es mehrere Ansätze, seinen Gedankenraum mit Descartes zu erklären, zuletzt 2006 von Harriet Stone. [3]
Und nun Epikur!? Augenscheinlich ist mit diesem Bezug nicht der dem griechischen Philosophen zu späteren Zeiten gerne angedichtete Hedonismus gemeint, den man im holländischen 17. Jahrhundert insbesondere mit den Gemälden Jan Steens verbinden würde. Vielmehr schlägt Prater vor, "Vermeer als den feinsinnigsten und vornehmsten Entdecker einer Lebenslust [zu] bezeichnen, die in seinen Bildern mit größter Selbstverständlichkeit gelebt wird und völlig frei ist von der Altlast religiöser Präponderanz" (31). Voraussetzung dieser Betrachtungsweise sei es, "die mediale Barriere zu überwinden und die Frauen [bei Vermeer; ThG] nicht dinglich kalt als wissenschaftlich-kunsthistorische Bildbesitzobjekte, sondern mit Empathie als lebendige Gestalten wahrzunehmen" (30). Diese begrüßenswerte Deutung weitet Prater auf alle Bildfiguren des Künstlers aus und attestiert ihnen eine "Affektkontrolle, die zur Freiheit von Leidenschaften und somit zur Unerschütterlichkeit des Gemüts führt" (43). Prater schildert Vermeer als einen Künstler, der sich in seinem Œuvre - ganz im Sinne Epikurs - vornehmlich dem Vergnüglich-Heiteren zugewandt habe und die schmerzhafte Seite des Daseins ausklammere. Allen moralisierend-religiösen wie erotischen Aspekten sei er möglichst ausgewichen und habe nur Momente der Lebenslust (hedoné) und der Gemüts- und Seelenruhe (ataraxia) zur Darstellung gebracht. Die religionsskeptischen Inhalte seiner Kunst ließen vermuten, Vermeer habe seine (mutmaßliche) Konvertierung zum katholischen Glauben als Nikodemit nur nach Außen gepflegt. [4]
Praters methodischer Ansatz ist insofern erfrischend, als er allen moralisierenden Tendenzen in der Interpretation der Gemälde Vermeers eine grundlegende Absage erteilt. Diese Sichtweise ist keineswegs neu, aber im Hinblick auf fest verankerte ikonographische Sehgewohnheiten auf die holländische Malerei wohltuend. Doch die kategorische Leugnung aller zwischenmenschlich-erotischen Anklänge in den Werken, selbst wenn diese zugegebenermaßen zu vorschnellen und vereindeutigenden Interpretationen geführt haben, kann am Bildbestand nicht überzeugen. Prater handelt sich dadurch eine sehr eingeengte Sicht auf Vermeer ein, über die auch wiederholte Beteuerungen der Bedeutungsambivalenz und Mehrdeutigkeit in den Bildern nicht hinweghelfen können.
Prater unterstellt den Werken des Delfters vier Momente, die dem sinnlichen Sehangebot der Bilder entgegenlaufen: Eine Narrativierung der Bildinhalte, die schon angesprochene Enterotisierung des Bildgeschehens, eine Reduzierung der Werke auf den Begriff der letztendlich unklar und seicht bleibenden Lebenslust sowie die Leugnung von Transzendenz. Exemplarisch für diese Sichtweise ist Praters Betrachtung des Berliner Gemäldes Herr und Dame beim Wein [5] (um 1658-1661), das bei ihm den bieder anmutenden Titel Die Weinprobe erhält: Der Herr wird zu einem reisenden Weinhändler, die Dame leert ihr Glas "mit Bedacht und Verstand" und ist "wohl in der Lage [...,] den Wein ruhig und konzentriert zu beurteilen" (32). Damit wird dem Bild jenes subkutan wirkende, vieldeutige Moment der subtilen Unklarheiten, schwebenden Irritationen und auf Dauer gestellten Unauflöslichkeiten abgesprochen, die den sinnlichen Reiz der Werke Vermeers ausmachen. Die Herausforderung ihrer 'Augenlust' besteht gerade darin, Widersprüche als nicht auflösbare zu genießen. Auch ein Vorher und Nachher der Handlung ist den Gemälden Vermeers nicht anzudichten, vielmehr verbildlichen sie einen stillgestellten Augenblick ohne angebbare vor- und nachgelagerte Temporalität. Zudem lässt sich Vermeers Werken eine, wie auch immer geartete, Erotik kaum absprechen, sei es im Zueinander der Bildfiguren, vermittels der Bilder im Bild oder in der Interaktion von (Frauen-)Figur und Betrachterperson. In letzter Konsequenz muss eine epikureische Sicht auf Vermeer den Werken jegliches Transzendierungsvermögen absprechen und sie auf einen platten Realismus reduzieren, dem natürlich auch Prater nicht huldigt. Liegt aber nicht in der Schönheit und Unauflöslichkeit der Bilder Vermeers (dies zeigt sich besonders an seinem Umgang mit Bildideen seiner Berufskollegen) ihr inhaltliches, formales und koloristisches Transzendieren begründet, ihr Verweisen auf ein Jenseits des Gegenständlichen und Dinghaften?
Besonders ergiebige Momente zeitigt Praters Ansatz bei "Beobachtungen unauffälliger Verhaltensweisen und feinster psychischer Regungen" (22). Doch Vermeers Gemälde durchwegs als "Verkörperungen[en] der eukrasis, der ausgeglichenen Mischung der humores (Körpersäfte), des bonum temperamentum, [zu] verstehen" (29), wird ihrem Sehangebot ebenso wenig gerecht wie ihre Rückführung auf die unmittelbare visuelle Evidenz des Augenscheins (enargeia). Hier argumentiert Prater mit einer "strukturelle[n] Klarheit und Transparenz der Bildorganisation" (45), um dann diese vermeintlich eindeutige Ausgewogenheit der Innenräume auf die Figuren im Raum zu projizieren, die dadurch zu "einzelnen Individu[en]" (111) - eine in der holländischen Genremalerei unzulässige Kategorie -, und in einem letzten Schritt zu "Jüngerin[nen] epikureischer Lehren" (123) werden. Diese emanzipatorische Tendenz ist für Prater ein "Vorschein der Aufklärung" (74), was bereits der Untertitel seines Buches akzentuiert.
Die einengende Deutung der Kunst Vermeers als einer "stillen Revolution der hedoné" (94) steht im Gegensatz zu den zu Beginn des Buches von Prater wunderbar vorgestellten Tronies, Vermeers Halbfigurenbildnissen ohne Porträtgehalt. Die Analyse ihrer sinnlichen und psychologischen Anmutung steht allen nachfolgenden Verflachungen seiner Werke entgegen. Doch sobald Prater die Temperamentenlehre auf die Tronies anwendet, entfährt es selbst dem geneigtesten Leser: "Wer würde beim Anblick dieser Schönheit noch an die Säftelehre denken wollen?" (29).
Anmerkungen:
[1] Ben Broos: "Un celebre Peijntre nommé Verme[e]r", in: Vermeer. Das Gesamtwerk, hg. von Arthur K. Wheelock (Hg.), (Ausst.-Kat. Washington / Den Haag), Stuttgart / Zürich 1995, 47-65, die Originalzitate sind ebd., 50, Abb. 4 entnommen. - Van Berkhouts erster Besuch fand am 14. Mai 1669 statt, der zweite am 21. Juni.
[2] Vgl. zuerst Jørgen Wadum: Vermeer in Perspective, in: Vermeer. Das Gesamtwerk, hg. von Arthur K. Wheelock, (Ausst.-Kat. Washington / Den Haag), Stuttgart / Zürich 1995, 67-79.
[3] Hubertus Schlenke: Vermeer mit Spinoza gesehen, Berlin 1998; Sara Hornäk: Spinoza und Vermeer. Immanenz in Philosophie und Malerei, Würzburg 2004, vgl. die Rezension des Autors in sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: www.sehepunkte.de/2005/11/8439.html; Harriet Stone: Tables of Knowledge: Descartes in Vermeer's Studio, Ithaca / London 2006, vgl. die Rezension von Karin Leonhard in sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: http://www.sehepunkte.de/2007/11/12688.html, mit weiterführender Literatur in Anm. 1.
[4] Konträr zu Praters Absage an jeden religiösen Gehalt in den Werken Vermeers argumentiert jüngst Gregor J. M. Weber: Johannes Vermeer: Faith, Light, and Reflection, Rotterdam 2023.
[5] So die 'klassische' Titelgebung nach Nils Büttner: Vermeer, München 2010, Abb. 23, vgl. die Rezension des Autors in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: http://www.sehepunkte.de/2010/09/18271.html.
Thierry Greub