Julian-André Finke: Hüter des Luftraumes? Die Luftstreitkräfte der DDR im Diensthabenden System des Warschauer Paktes (= Militärgeschichte der DDR; Bd. 18), Berlin: Ch. Links Verlag 2010, 394 S., ISBN 978-3-86153-580-5, EUR 34,90
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Die Reihe "Militärgeschichte der DDR" des Christoph Links Verlages widmete sich bislang vor allem Überblicks- und Querschnittsthemen zur Geschichte der Streitkräfte des zweiten deutschen Staates. Dagegen blieben die einzelnen Teilstreitkräfte bisher unberücksichtigt. Das ändert sich nun mit Julian-André Finkes Studie, die erstmals wesentliche Aspekte der Entwicklung der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung (LSK/LV) der NVA auf Grundlage archivalischer Quellen nachzeichnet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf ihrer Rolle im Diensthabenden System (DHS) der Luftverteidigung des Warschauer Vertrages.
Das DHS setzte sich aus den nationalen Luftverteidigungssystemen zusammen, die auf Bündnisebene koordiniert wurden. Definiert war es als eine speziell befohlene Anzahl von Truppen der LSK/LV, die sich in einer höheren Stufe der Gefechtsbereitschaft befanden und als erste für die Abwehr eines überraschenden Luftüberfalls zur Verfügung standen (4). Für die LSK/LV der NVA bildete die technische und personelle Sicherstellung des DHS die wichtigste Gefechtsaufgabe in Friedenszeiten, die sie in der DDR gemeinsam mit Kräften der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) sowie der Truppenluftabwehr der Landstreitkräfte und der Volksmarine der NVA zu erfüllen hatte.
Finke zeichnet die Geschichte des DHS und die Rolle der LSK/LV minutiös in sieben chronologischen Kapiteln nach. Sein erklärtes Erkenntnisinteresse besteht aber weniger in der Analyse von Struktur und Funktionsweise des DHS, seinen jeweiligen Möglichkeiten und Problemen oder den spezifischen Handlungsspielräumen der DDR-Streitkräfte. Statt dessen will er mit seiner Arbeit vor allem "einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, ob und inwiefern der untergegangene ostdeutsche Staat während seines Bestehens souverän gewesen ist." (16)
Diese Gewichtung der Erkenntnisinteressen überrascht ein wenig und überzeugt nur bedingt, da sich doch zur Untersuchung der Souveränitätsfrage eher andere Forschungsfelder angeboten hätten, wie etwa die alliierten Vorbehaltsrechte, der Status der GSSD oder die Möglichkeiten und Grenzen einer eigenständigen Außen- und Sicherheitspolitik der DDR. Der Fokus auf die Souveränitätsfrage entspringt - wie das Vorwort des vormaligen Amtschefs des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) Hans Ehlert zeigt - primär dem Bemühen, dem Thema eine über den militärischen Bereich hinausreichende historiografische Relevanz zu verleihen.
Folgerichtig beginnt Finke seine Analyse mit einer theoretischen Bestandsaufnahme zum Souveränitätsbegriff unter Berücksichtigung der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen supranationalen Luftverteidigungssysteme. Als grundsätzliches Problem arbeitet er dabei den fehlenden wissenschaftlichen Konsens über den Souveränitätsbegriff im Allgemeinen und den Grad der Souveränität der DDR im Besonderen heraus. Sein Vorschlag, den traditionellen Souveränitätsbegriff durch solche Begriffe wie "Verflechtung", "Abhängigkeit" und "Handlungsspielraum" (39) zu erweitern, ist unter dem Gesichtspunkt der Blockbindung sicherlich sinnvoll. Hinsichtlich des Souveränitätsgrades der DDR gewinnt der Bewertungsmaßstab dadurch aber nicht unbedingt an Kontur.
Die Kapitel III bis IX sind dann dem DHS in der DDR selbst gewidmet. Basierend auf einer akribischen Auswertung der archivalischen Quellen - vor allem der im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg lagernden Akten - schildert Finke die Entwicklungsetappen und -probleme der Luftverteidigung mit einer Fülle zum Teil spannender Details. Dazu gehören die zahlreichen Beispiele aus der Praxis des "Air Policing" im DDR-Luftraum ebenso wie die Probleme im Zusammenwirken mit den Verbündeten, insbesondere der GSSD. Letztere fühlte sich - formale Souveränität der DDR hin oder her - als eigentlicher "Herr im Haus" (135) und kochte regelmäßig "ihre eigene Suppe" (177). Das fand seinen Ausdruck in der bis zum Ende der DDR asymmetrischen Verteilung der Befugnisse gegenüber Luftraumverletzern, unangemeldeten Flügen ohne Freund-Feind-Kennung (222) sowie der mit der DDR-Seite nicht abgestimmten Verlegung von Fla-Raketen-Verbänden (240). Derartige Alleingänge der GSSD stifteten auf NVA-Seite immer wieder Verwirrung und führten insgesamt zu einer Beeinträchtigung des Luftverteidigungssystems. Auf der Bündnisebene ist vor allem der defizitäre Nachrichtenaustausch und das daraus resultierende Fehlen eines einheitlichen Luftlagebildes zu nennen. Auf nationaler Ebene wurde das Zusammenwirken der Flak- bzw. Fla-Raketenverbände mit den Jagdfliegerkräften sowie deren Leitung durch die Funktechnischen Truppen regelmäßig für verbesserungsbedürftig befunden. Hinzu kamen die chronischen Probleme in der Ortung und Abwehr von Tieffliegern.
Den immer gleichen Unzulänglichkeiten stehen auf der anderen Seite beinahe ständige Verbesserungen in den Bereichen Organisation, Ausbildung und technische Ausstattung gegenüber. Nach dem vorliegenden Quellenbefund ließe sich die Geschichte des DHS in dem Satz zusammenfassen: "Alles wird besser, aber nichts wird gut." Hier wäre der Versuch einer Bewertung der Leistungsfähigkeit der Luftverteidigung in der DDR nicht nur auf Basis der internen Manöverkritik, sondern auch in Relation zu anderen zeitgenössischen Luftverteidigungssystemen und zu den jeweiligen Luftangriffsmitteln der NATO als potenziellem Kriegsgegner wünschenswert gewesen.
Die enge Fixierung auf archivalische Quellen führt an mancher Stelle leider auch dazu, dass sich die Darstellung im Detail verliert, ohne dass dessen Bedeutung für das DHS und seine personellen und ökonomischen Kosten hinlänglich deutlich werden. Das ist etwa der Fall, wenn für 1968 vermerkt wird, dass nun je Fla-Raketenregiment (FRR) zwei Feuerabteilungen in der Bereitschaftsstufe II und die restlichen in der Bereitschaftsstufe III zu halten seien (149). Weder gibt es eine Information darüber über wie viele Feuerabteilungen in welchem Bestand ein FRR 1968 verfügte, noch werden die Implikationen der verschiedenen Bereitschaftsstufen erläutert. Beinahe völlig im Dunkeln bleiben auch Dienstabläufe sowie die Arbeits- und Lebensbedingungen der im DHS eingesetzten Soldaten. Hier hätten die in der Danksagung des Autors erwähnten Zeitzeugen vielleicht helfen können.
Hervorzuheben ist schließlich noch die im zehnten Kapitel vorgenommene Betrachtung der westdeutschen Rolle im Luftverteidigungssystem der NATO als Vergleichsfolie zu den LSK/LV der NVA im DHS, die auch den Auftakt für ein ausgewogenes Fazit bildet. Danach waren beide deutschen Staaten strukturell in ihrer Souveränität beschränkt, wobei die Bundesrepublik im Gegensatz zur DDR jedoch über wesentliche Partizipationsrechte verfügte. Die DDR war demgegenüber von der UdSSR derart abhängig, dass sie kaum Spielräume für die Wahrnehmung der eigenen nationalen Interessen hatte. In über 30 Jahren DHS erweiterten sich zwar auch ihre Kompetenzen "erheblich" (310), allerdings nur dann, wenn dies in sowjetischem Interesse lag. Auch wenn dieser Befund hinsichtlich der Souveränität der DDR wenig überraschend ist, handelt es sich bei Finkes Studie um die zentrale Arbeit der Luftstreitkräfte der NVA.
Christian Th. Müller