Rüdiger Wenzke (Hg.): "Damit hatten wir die Inititative verloren". Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90, Berlin: Ch. Links Verlag 2014, 258 S., div. s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-809-7, EUR 29,90
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Pünktlich zum 25. Jahrestag des Mauerfalls im Herbst 1989 hat das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften ein instruktives Bändchen zur Rolle der bewaffneten Organe der DDR während der "friedlichen Revolution" vorgelegt. Die vier von Herausgeber Rüdiger Wenzke zusammengestellten Aufsätze geben dabei aufschlussreiche Einblicke in die innere Verfasstheit der bewaffneten Macht des SED-Regimes.
Den Anfang bildet Heiner Bröckermanns weitgefasste Untersuchung der Militär- und Sicherheitspolitik der SED in den späten 1980er Jahren. Darin zeigt er anschaulich, wie vor dem Hintergrund von Gorbatschows Reformpolitik und der verbesserten Beziehungen zwischen Ost und West die Handlungsspielräume der SED-Führung sukzessive zusammenschrumpften. Anders als noch zu Beginn des Jahrzehnts gelang es immer weniger, die eigenen sicherheitspolitischen Initiativen in Herrschaftslegitimation umzumünzen. Neben der internationalen Entspannung war dies wesentlich darauf zurückzuführen, dass die vielzitierte "Friedenspolitik" Erich Honeckers nun von der Michail Gorbatschows in den Schatten gestellt wurde. Wie Bröckermann treffend formuliert, betrieb die SED nunmehr "Sicherheitspolitik auf dem Nebengleis" (20). Seitdem wuchsen einerseits auf allen Hierarchieebenen Unsicherheit und Zweifel, während die überkommenen Loyalitäten andererseits zusehends erodierten.
Dies verdeutlicht auch der anschließende "Von der Parteiarmee zur Volksarmee?" überschriebene Aufsatz von Rüdiger Wenzke. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme der Nationalen Volksarmee und der Umstrukturierung der Grenztruppen 1989 steht die Rolle von NVA und Grenztruppen im Vorfeld des 40. Jahrestages der DDR und des Mauerfalls am 9. November 1990 im Zentrum seines Beitrages. Wenzke arbeitet dabei klar heraus, wie gespalten die militärische Führung in der Frage eines NVA-Einsatzes gegen die Demonstrationen der eigenen Bevölkerung war und wie sehr es in der Truppe selbst rumorte. Als Kompromiss zwischen "Falken" und "Tauben" charakterisiert Wenzke die Bildung von besonderen Hundertschaften im Militärbezirk III, die, ausgestattet mit Schild und Schlagstock, am Dresdner Hauptbahnhof, aber auch in Karl-Marx-Stadt und Plauen zum Einsatz kamen. Der Umstand, dass dabei am 5./6. Oktober zunächst auch die persönlichen Schusswaffen mitgeführt und im Stab der 7. Panzerdivision sogar der Einsatz gepanzerter Fahrzeuge erwogen wurde, zeigt die Eskalationspotentiale. Dass auf Waffengewalt verzichtet wurde, hing wesentlich damit zusammen, dass die verantwortlichen Funktionäre und Kommandeure vor den unabsehbaren Konsequenzen zurückschreckten und sich die Masse der Wehrpflichtigen relativ klar dagegen positioniert hatte.
Zweifel an der ihnen zugedachten Rolle nagten aber auch an den genuin für den inneren Einsatz vorgesehenen Angehörigen von Bereitschaftspolizei und Kampfgruppen. Wie Daniel Niemetz in seinem Aufsatz verdeutlicht, sollte es vor allem ihre Aufgabe sein, einen "neuen 17. Juni" zu verhindern. Doch ab 1962 waren sowohl Ausbildung als auch Strukturen zunehmend auf die militärische Landesverteidigung ausgerichtet worden. Gerade bei den zur Bereitschaftspolizei einberufenen Wehrpflichtigen, aber auch bei den "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" war dies nicht ohne Konsequenzen für das eigene Selbstverständnis geblieben. So standen bei letzteren gerade die "jüngeren Kämpfer" der ab 1988 einsetzenden Rückorientierung auf die "Niederschlagung innerer Unruhen" kritisch gegenüber (98f).
Eng an den archivalischen Quellen und äußerst plastisch schildert Niemetz dann schwerpunktmäßig die dramatischen Ereignisse in der ersten Oktoberhälfte 1989. Dabei wird einerseits die willkürliche Gewaltanwendung und "Zuführung", auch von völlig unbeteiligten Bürgern, durch die "Schutz- und Sicherheitsorgane" dargestellt. Andererseits werden aber auch die massiven Zweifel und Motivationsprobleme bei den Vertretern der Staatsmacht eindrücklich vorgeführt.
Das zeigte sich vor allem bei den Angehörigen der Kampfgruppen. Je länger die Krise andauerte, desto weniger "Kämpfer" erschienen zu den anberaumten Einsätzen. So standen am 9. Oktober im Raum Leipzig lediglich 58 Prozent der alarmierten Kräfte zur Verfügung. Immerhin 85 "Kämpfer" hatten den geplanten Einsatz offen verweigert und 16 waren gänzlich aus den Kampfgruppen ausgetreten. Dies war nicht zuletzt der Angst vor einer "chinesischen Lösung" geschuldet, die angesichts der Vorbereitungen der Staatsmacht zur Verhinderung einer neuerlichen Montagsdemonstration in greifbare Nähe gerückt zu sein schien. Tatsächlich war es die mit über 70.000 Teilnehmern unerwartete Dimension der Demonstration und deren absolute Friedfertigkeit, welche die Leipziger Partei- und Polizeiführung kurz vor dem Zusammentreffen von Einsatzkräften und Demonstranten zu dem Entschluss veranlasste, von "aktiven Handlungen gegenüber Demonstranten" abzusehen, "zur Eigensicherung" überzugehen und "verkehrsorganisatorische Maßnahmen ein[zu]leiten" (134). Das war zweifellos einer der entscheidenden Wendepunkte im Herbst 1989. Fortan gab es DDR-weit keine gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten mehr.
Im vierten, von Matthis Uhl verfassten Aufsatz wird schließlich die Rolle der in der DDR stationierten sowjetischen Truppen im Vorfeld und während des Herbstes 1989 untersucht. Bemerkenswert ist dabei vor allem Uhls Befund, dass die Planungen für einen weitgehenden Abzug der "Westgruppe der Truppen" (WGT) bis Ende 1995 bereits im Sommer 1989 begannen. Zur gleichen Zeit erging aus Moskau die Warnung an Erich Honecker, dass er bei einem gewaltsamen Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung nicht mit sowjetischer Unterstützung rechnen könne. Die Führung der WGT unter Armeegeneral Boris V. Snetkov schien allerdings weniger entschlossen, den Ereignissen in der DDR ihren Lauf zu lassen. So soll dieser noch Ende Oktober dem neuen SED-Chef Egon Krenz militärische Hilfe angeboten haben. Unter dem Eindruck des Mauerfalls wurde die WGT schließlich in Alarmbereitschaft versetzt, wobei punktuell sogar Truppen an der Grenze zur Bundesrepublik in Stellung gegangen sein sollen. Die tatsächliche Gefahr eines Einsatzes der WGT gegen die DDR-Bevölkerung schätzt Uhl jedoch als gering ein.
Insgesamt machen die vier um eine Zeittafel und ausgewählte Dokumente ergänzten Beiträge des vorliegenden Bandes vor allem zweierlei deutlich: Erstens war ein friedlicher Verlauf der Ereignisse keineswegs garantiert, und zweitens bedeutete eine dann am Ende insgesamt "friedliche Revolution" keineswegs, dass diese tatsächlich auch durchgängig gewaltfrei gewesen wäre.
Christian Th. Müller