Christopher Andrew: MI 5. Die wahre Geschichte des britischen Geheimdienstes. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Enrico Heinemann und Norbert Juraschitz, Berlin / München: Propyläen 2010, 912 S., ISBN 978-3-549-07379-7, EUR 24,95
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Philip M. Coupland: Britannia, Europa and Christendom. British Christians and European Integration, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2006
Der britische Inlandsgeheimdienst MI5 wusste es besser. Angesichts der Informationen, die der Dienst aus seinen gut unterrichteten Quellen hatte, war die britische Politik des Appeasement gegenüber der aggressiven Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschlands ein großer Fehler. "Englands Schwäche" hätte dieses eher zu weiteren Angriffsplänen ermuntert, als es davon abgebracht. Zu dieser wohl ersten Verurteilung der Außenpolitik der britischen Regierung durch ihren eigenen Geheimdienst kam es in einem Memorandum vom 7. November 1938. Die Sudentenkrise sei nicht das Ende, sondern erst der Beginn einer dynamischen deutschen Außenpolitik und eines massiven Programms zur Territorialerweiterung, heißt es in dem Dokument. Damit Premierminister Neville Chamberlain dem Bericht die nötige Aufmerksamkeit schenkte, entschloss man sich, dem Regierungschef Kostproben von Hitlers beleidigenden Äußerungen über ihn zu geben. Hitlers Bezeichnung Chamberlains als "Arschloch" wurde ebenso rot unterstrichen wie seine abfälligen Bemerkungen über Chamberlains Markenzeichen, den Regenschirm, als lächerliches Symbol des "Schirm-Pazifismus" des einst so imposanten britischen Weltreichs (247). Obwohl die Beleidigungen Chamberlain erzürnten, blieb die britische Regierung bei ihrer Appeasementpolitik und der Einfluss des MI5 auf die Außenpolitik Großbritanniens weiterhin begrenzt.
In der Passsage zum Münchner Abkommen kommen gleichzeitig eine der größten Stärken und eine der größten Schwächen des neuen Buchs des Geheimdienstspezialisten und Geschichtsprofessors Christopher Andrew zum Vorschein. Für die 900 Seiten starke "offizielle" Geschichte des britischen Inlandsgeheimdiensts MI5 (oder auch Security Service) hatten der Cambridger Historiker und sein Team Zugang zu ca. 400 000 bisher unveröffentlichten Akten einer Institution, deren Existenz die britische Regierung überhaupt erst seit 1989 einräumt. Entsprechend beeindruckend ist die Fülle an Material, das Eingang in Andrews Buch gefunden hat. Doch so imposant die Vielzahl der interessanten Quellen ist, so sehr geht ihre detaillierte Darstellung leider zu oft auf Kosten einer historischen Einordnung, Kontextualisierung und Beurteilung. Der Leser erfährt etwa - um das obige Beispiel aufzugreifen - nichts davon, welche militärischen Zwänge und welche außen- und innenpolitischen Beweggründe die britische Regierung für ein Festhalten an der Politik des Appeasement hatte, die bis heute zu den umstrittensten und produktivsten Themen der britischen Geschichtsschreibung gehört. Selbstverständlich kann man bei einer Studie, die den britischen Inlandsgeheimdienst über den Zeitraum von 100 Jahren porträtiert, nicht erwarten, dass in jedem Kapitel der jeweilige Forschungsstand genauestens reflektiert wird, aber allzu oft lässt Andrew den Leser mit seinen Geheimdienstquellen allein, bietet keine Alternativperspektive zu derjenigen der Geheimdienstakteure und verzichtet auf eine analytische Metaebene. Die übergreifende Frage nach der tatsächlichen Bedeutung von Geheimdiensten wird so meist nur gestreift.
Dennoch ist das Buch eine große Leistung. In sechs Großkapiteln wird die Geschichte des MI5 chronologisch von seinen Anfängen in der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs über seine großen Bewährungsproben während des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs bis in die jüngste Zeit der Abwehr des religiös motivierten Terrors in der Folge des 11. Septembers 2001 anhand einer Flut bisher unbekannter Quellen dargestellt. Neben den unendlichen, zum Teil skurrilen, zum Teil abenteuerlichen Geheimdienstgeschichten, die sich vor dem Leser dicht gedrängt auftun, erfährt man auch Organisationsgeschichtliches sowie allerhand über führendes und ausführendes Personal. Dass die Mitarbeiter des MI5 nicht in Stellenanzeigen gefunden wurden, sondern sich auf der Basis von vertraulicher Empfehlung aus der gesellschaftlichen Elite der männlichen "Oxbridge"-Absolventen und ehemaligen Militärs zusammensetzten, überrascht weniger als der offenkundige Antisemitismus, der laut Andrew dabei zutage trat: "Noch im Jahr 1974, als man sich darauf einigte, auf ein 'generelles Verbot der Rekrutierung von Juden mit britischer Staatsbürgerschaft' zu verzichten, gab es Vorurteile gegenüber Juden, die ihren Glauben besonders intensiv praktizierten und solchen von eindeutig jüdischem 'Aussehen und Auftreten'." (364f.)
Seine Gestalt änderte der MI5 jeweils mit dem veränderten Bedrohungspotenzial: Angefeuert von erfolgreichen Agententhrillern war es im Oktober 1909 zunächst die Angst vor deutscher Spionage und Invasionsgefahr, die einen noch gänzlich amateurhaften Ein-Mann-Geheimdienst im Büro eines Privatdetektivs in der Londoner Victoria Street 64 die Arbeit aufnehmen ließ. Nach der Niederlage des Deutschen Reichs sorgte zunächst die Bedrohung durch die Sowjetunion für einen Ausbau und eine Professionalisierung des Security Service. Sein "goldenes Zeitalter" (728) bescherte wiederum Deutschland dem MI5, als es diesem während des Zweiten Weltkriegs gelang, durch Informationsbeschaffung und Täuschungsmanöver den Verlauf des Krieges zu beeinflussen. Während des Kalten Kriegs war es die Sowjetunion, die mit Infiltrierung und "Umdrehung" von britischen Agenten dem MI5 weit voraus war. Schon vor dem Ende des Kalten Kriegs hatte die Bekämpfung des Terrors (insbesondere durch die IRA) eine immer wichtigere Rolle gespielt, doch erst seit der Auflösung der Sowjetunion und mit dem Aufkommen des islamistischen Terrors hat sich die Bedeutung von klassischer Spionage und Gegenspionage drastisch verringert: Für die Bekämpfung feindlicher Agententätigkeit gibt der MI5 heute gerade einmal noch 3,5 Prozent seines Budgets aus.
Für die Beurteilung des Erfolgs eines Geheimdiensts, so bilanziert Andrew, sind "Leistungsindikatoren" nicht hilfreich. Denn allzu oft lasse sich der Erfolg nicht nachweisen, sondern nur vermuten. Das mag im Falle der nicht stattgefundenen Sabotageakte, Infiltrierungsversuche und Terroranschläge richtig sein. Doch jenseits der Agentengeschichten hätte man hinsichtlich der Bedeutung von Geheimdiensten für den politischen Entscheidungsprozess und allgemein für demokratische Gesellschaften vom Autor gern mehr erfahren. Auch die Natur des geheimdienstlichen Wissenserwerbs selbst hätte sich zu analysieren gelohnt. Drängt sich doch gerade hier der Verdacht auf, dass angesichts der Kurzfristigkeit der Informationen, der damit verbunden Unersättlichkeit der Geheimdienste und der durch Gegenspionage und Gegengegenspionage immer wieder in Frage gestellten Sicherheit der Informationen eine Sisyphusarbeit stattfand, deren Sinn aus heutiger Sicht nicht durchweg einleuchtend ist. Die Nichtbeantwortung solcher Fragen einer "offiziellen" Geschichte des britischen Geheimdiensts vorzuwerfen, geht aber möglicherweise etwas am Ziel vorbei.
Bernhard Dietz