Saskia Durian-Ress: Christian Wenzinger. Die Bildwerke, München: Hirmer 2010, 207 S., ISBN 978-3-7774-2601-3, EUR 68,00
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(Johann) Christian Wenzinger oder Wentzinger (1710-1797) - für beide konkurrierende Schreibweisen gibt es gute Argumente - war der Inschrift auf seinem Grabstein zufolge "Stadtrath, Bildner, Architekt, Mahler". Überragende Bedeutung erlangte er jedoch nur als Bildhauer, und allein diesem Teil seines Œuvres gilt das neue Buch von Saskia Durian-Ress, in dem Gemälde von ihm lediglich am Rande vorkommen. Es erscheint zu Wentzingers 300. Geburtstag, einem Jubiläum, zu dem das Freiburger Augustinermuseum außerdem vom 27. November bis zum 6. März 2011 eine repräsentative Werkschau veranstalten wird.
Grundlage für jede Beschäftigung mit dem Künstler ist nach wie vor die 1987 erschienene Monografie von Ingeborg Krummer-Schroth, die im Historischen umfassend und zuverlässig ist. In Fragen nach der Urheberschaft und dem Stil der einzelnen Werke bleibt sie jedoch zu unkritisch und vermittelt deshalb keine klare Vorstellung von Wentzingers Œuvre. Durian-Ress hat keine revidierte Fassung dieses Buchs mit einem neuen Werkverzeichnis vorgelegt, sondern sich darauf beschränkt, anhand der gesicherten Arbeiten und solcher, die sie für eigenhändig hält, Wentzingers künstlerische Eigenart herauszuarbeiten und die Voraussetzungen für seinen Stil zu klären. Sie teilt die allgemein anerkannte Auffassung, Wentzingers Kunst sei eigenständig und unabhängig von der übrigen Produktion in Süddeutschland, und sieht ihre Aufgabe darin, den "Sonderweg des Bildhauers" (7) zu bewerten. Entscheidend ist für sie dabei die aus ihrer Sicht für sein Werk maßgebliche Wirkung seines Aufenthalts in Rom.
Im Gegensatz zu seinen süddeutschen Bildhauerkollegen, die sich auf der Gesellenwanderung selten über die Reichsgrenzen hinaus bewegten und allenfalls an den Akademien von Augsburg oder Wien studierten, suchte Wentzinger die international führenden Kunstzentren Rom und Paris auf. "Roms vieljähriger Schüler", so nannte ihn Heinrich Sautier 1798 in seinem Nachruf. Belegt ist, dass ihm am 4. Juni 1731 in Rom ein Pass für die Rückreise in die Heimat ausgestellt wurde. Er war damals 20 Jahre alt, nicht schon 21, wie Durian-Ress irrtümlich angibt. Wenn er mit 18 Jahren - wohl kaum früher - im Frühjahr 1729 von zu Hause aufgebrochen ist, hat er höchstens zwei Jahre lang in der Ewigen Stadt verbracht. Durian-Ress geht von einem planvollen dreijährigen Studium an der dortigen Accademia di San Luca wie von einer bewiesenen Tatsache aus und behandelt ausführlich den akademischen Lehrbetrieb und die zugrunde liegende Theorie (16-21). Demgegenüber ist aber zu bedenken, wie schwer es für einen Achtzehnjährigen, auf sich allein gestellt und wohl der Landessprache zunächst nicht mächtig, gewesen sein muss, in Rom Arbeit zu finden, um sich überhaupt über Wasser zu halten. Über seinen Zugang zur Akademie und zu ihrem Unterricht kann man nur spekulieren; Anhaltspunkte dafür gibt es keine. Wentzingers Aufenthalt in Paris um 1735-1737, bei dem ausdrücklich vom Akademiebesuch die Rede ist, misst Durian-Ress demgegenüber weniger Bedeutung bei. "Dreymal gekrönter Akademiker in Paris", so rühmt Sautier den Künstler 1798.
Bei der Betrachtung der Arbeiten Wentzingers hat man - der Rezensent eingeschlossen - keine tiefgreifende Wirkung der Aufenthalte in Rom und Paris auf seine Kunst feststellen können. Gelegentlich wurde das als Mangel empfunden, wofür Verlegenheitsfloskeln, wie "durch Paris geschulte Eigenart" (Krummer-Schroth) oder "italienisch-französisch geprägte Klassik" (Hermann) sprechen. Um die unkonventionellen Figuren des Künstlers, der sich so offensichtlich nicht um akademische Normen kümmerte, zu würdigen, begnügte man sich mit allgemeinen Begriffen, wie "monumentale Großzügigkeit" (Feulner) oder "Gelassenheit und Natürlichkeit" (Zimmermann). Die Behauptungen von Durian-Ress, "in der statuarischen und formalen Strukturierung der Figur" stehe Wentzinger der Skulpturenauffassung Camillo Rusconis "sehr nahe" (21), und er sei "in den Sog" dieses Künstlers geraten (22), sind nicht nachzuvollziehen.
Wentzingers Erstlingswerk, der Taufstein der Klosterkirche von St. Peter im Schwarzwald von 1733 wird von einer Gruppe der Taufe Christi bekrönt, für die seit Längerem überzeugend eine bedeutende Marmorskulptur von Jean Baptiste Lemoyne als Vorbild gilt. Sie wurde 1731 auf dem Hochaltar von Saint-Jean-en-Grève in Paris aufgestellt (seit 1802 in Saint-Roch) und ist Wentzinger vielleicht ein Jahr später in Straßburg, wo er sich damals aufhielt, durch eine zeichnerische Wiedergabe bekannt geworden. Die Ähnlichkeit beschränkt sich allerdings auf die Grundzüge der Komposition. Durian-Ress findet, ohne es zu begründen, Lemoynes Figurendisposition "nicht relevant" (48, Anm. 161) und verweist stattdessen auf römische Beispiele als angebliche Vorbilder (Abb. 9-14), die aber alle der Gruppe Wentzingers ferner stehen als das Werk Lemoynes. Halbfiguren Johannes des Täufers und eines weiteren Heiligen auf zierlichen Régence-Sockeln im Freiburger Augustinermuseum (Krummer-Schroth 1987, Abb. 18f.) sind mit ihren schlanken Körpern, den gelängten Köpfen, auch bei der Behandlung der Gewänder, der Haare oder des Tierfells der Täufergruppe von St. Peter so ähnlich, dass man sie dieser als Frühwerke Wentzingers aus der Zeit um 1733 an die Seite stellen kann. Durian-Ress hält sie nur für späte Reflexe der Figur des Täufers von anderer Hand aus den Jahren um 1760-1770 (128, Anm. 304).
Sie betont den Unterschied zwischen "motivischen" Anregungen und den Ausschlag gebenden "stilistischen" Kriterien (53), ohne überzeugende stilistische Einflüsse römischer Skulpturen auf Wentzinger dingfest machen zu können. So ist Giuseppe Riccardis Statue des hl. Athanasius auf den Kolonnaden von St. Peter in Rom (Abb. 33) Wentzingers Altarfigur des hl. Blasius in Oberried (Abb. 30) nur in Bewegung und Gestik ähnlich, in Form und Ausdruck bleiben sich die beiden Skulpturen fremd. Auch keiner der anderen ins Feld geführten Vergleiche bezieht sich auf den persönlichen Stil des Bildhauers.
Neu zugeschrieben wird dem Künstler eine unterlebensgroße, silbern und weiß gefasste Holzbüste Johannes des Täufers in Privatbesitz (Abb. 101f.), die am Sockel "Ch. W." bezeichnet ist. Sie stammt aber meines Erachtens weder von Wentzinger, noch aus dem 18. Jahrhundert. "Das 'Spätgotische', das aus dem Haupt der Büste spricht" (127f.), ist dem Bildhauer wesensfremd, was auch für die Figurenauffassung als Ganzes und die Einzelformen gilt. Die gesägte Abflachung der Rückseite und das in die Fläche gebreitete, wenig überzeugende Sockel-Ornament sprechen sehr für eine historistische Arbeit. Das Monogramm allein, für das zudem Vergleichsbeispiele in Wentzingers Œuvre fehlen, kann eine Autorschaft nicht begründen.
Den Selbstbildnissen des Künstlers ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Autorin zweifelt daran, dass es sich bei dem berühmten "Mann mit Muff" (Abb. 73), einem der Zuschauer beim Staufener Ölberg, um eine Selbstdarstellung des Bildhauers handelt. Das spätere der beiden gemalten Porträts (Abb. 4) datiert sie überzeugend erst um 1760, und bei dem früheren konnte sie den beigegebenen Männerkopf als ein Werk des 17. Jahrhunderts identifizieren, das 100 Jahre später wohl als antikes Bildnis Senecas oder Demokrits gegolten hat (Abb. 3). Außerdem erkannte sie für die Wentzinger zugeschriebene Zeichnung mit einem knienden Bischof (Abb. 115) den Stich mit der Darstellung des hl. Bonifatius nach Matthias Kager in der "Bavaria Sancta" des Matthäus Rader (Abb. 116) als Vorbild. Allerdings unterscheidet sich die Zeichenweise dieses Blattes, die Paul Troger und seinem Kreis, also der Wiener Akademie, nahe steht, so stark von den übrigen Zeichnungen Wentzingers, dass sich die traditionelle Zuschreibung an ihn nicht halten lässt.
Mit Gewinn liest man das Kapitel über den Werkstattnachlass und die ausführliche Würdigung des Rodt-Grabmals im Freiburger Münster. Zu Recht werden die Puttendarstellungen in der Stiftskirche von St. Gallen als eigenständige plastische Schöpfungen mit wesentlicher inhaltlicher Aussage gewürdigt und die künstlerische Bedeutung der Statuette des sel. Karlmann in Stuttgart (Abb. 162) hervorgehoben.
Trotz zahlreicher guter Beobachtungen und einzelner neuer Erkenntnisse entsteht keine schlüssige Gesamtschau von Wentzingers bildhauerischem Schaffen. Das zentrale, breit dargelegte Anliegen der Autorin, der Nachweis, "dass die intensive Auseinandersetzung mit der spätbarocken Plastik Roms, aber auch mit den Lehrinhalten der römischen Bildhauerakademie, Wenzingers Formenrepertoire und seine Bildvorstellung nachhaltig geprägt hat" (Klappentext), wird nicht erbracht und kann meines Erachtens auch nicht erbracht werden. Man wird den angenehm handlichen Band wohl vor allem wegen seiner zahlreichen, fast durchweg sehr schönen farbigen Abbildungen häufiger in die Hand nehmen.
Peter Volk